Dienstag, 7. September 2021

Das Thema der Woche

LITTLE SIMZ
Sometimes I Might Be Introvert
Age101
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ ambitioniert | maximalistisch | identitätsstiftend ] 

Wäre es nicht um den gottverdammten Aubrey Graham und seine elenden Schwanzvergleiche mit Kanye West gewesen, hätte Little Simz vielleicht endlich mal das geschafft, was sie in meinen Augen schon seit etlichen Jahren verdient. Einmal das Album zu veröffentlichen, über das wenigstens am Release-Wochenende alle reden wollen und das sie wirklich mal an die Spitze der Tagesordnungspunkte bei den Hiphop-Nerds dieser Welt schiebt. Und eigentlich hatten diesmal ja alle Vorzeichen gestimmt. Seit einer halben Dekade hatte die Londonerin nun schon für ihren Platz am Diskussionstisch der ganz Großen gekämpft, dabei definitiv mehr als ein sträflich unterschätztes Hiphop-Meisterwerk veröffentlicht, war immer irgendwie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und von vielen nicht ernst genommen worden, nur um im Schatten anderer stetig immer weiter zu wachsen. Ihr dritter Longplayer Grey Area machte sie 2019 endlich ein bisschen zum Gesprächsthema, war aber in meinen Augen leider auch die erste Platte, auf der sie musikalisch schwächelte. Dann folgte Corona und damit wieder eine Zwangspause, die immerhin in einer ziemlich soliden EP resultierte. Aber 2021 sollte nun wirklich mal alles passen. Die fette Leadsingle Introvert spülte im April dieser Saison alle erodierten Kanäle ordentlich durch und sorgte wieder für neugierige Blicke, die Maße der angekündigten Platte taten dann das übrige: 19 Tracks, 65 Minuten Spieldauer, ein halbes Orchester in der Instrumentalabteilung und eine Produktion mit Maximalismus aus Handarbeit. Sometimes I Might Be Introvert ist - egal ob erfolgreich oder nicht - das bisherige Opus Magnum der Little Simz. Ihr Dark Twisted Fantasies. Ihr To Pimp A Butterfly. Und dann kommt kurz vor der Zielgeraden ein eingeschnappter Drake und macht vor allen den Hampelmann. Eine Sache, die ich ihm definitiv übel nehme. Aber ganz egal, für mich bleibt Introvert das wichtigste Album der ersten Septemberwoche. Und definitiv eines, über das es sich zu reden lohnt. Schon alleine der Aufmachung wegen, bei der die Londonerin gleich mal zeigt, was sie unter Qualitätsarbeit versteht. Denn zusätzlich zu den großartigen Beats, die ihr Hauptproducer Inflo für diese LP baut, gibt es viele Elemente, die sehr aufwändig live instrumentiert wurden und unter anderem den Einsatz eines Orchesters und eines gemischten Chores beinhalten. Über das ganze Album hinweg streuen diese jede Menge Bombast und glamouröse Aura in dieses Album, wobei Simz selbst diesen Sound auch überraschend gut aufnimmt. Den Eindruck der sehr kantigen und ungeschminkten Rapperin, der in ihrer Frühphase entstand, hatte sie zwar mit Platten wie Stillness in Wonderland und Grey Area erfolgreich gebrochen, dennoch ist es die eine Sache, ein paar knuffige Soul-Samples und gesungene Parts zu bringen und eine ganz andere, hier plötzlich cineastisch sein zu wollen. Doch wie bisher alle großen Stilsprünge in Simz' Karriere wirkt auch dieser, wenn er einmal gemacht ist, wie eine Kleinigkeit. Zumal man an Tracks wie Speed, I Love You, I Hate You oder Standing Ovation trotzdem noch merkt, wie die Künstlerin darüber nicht ihr Händchen für grimigen Flow und harten Lyrizsimus verliert. Wo mich dieses Album auf musikalischer Ebene an vielen Punkten an die großen Narzissmus-Phasen von Kanye West und Jay-Z Ende der Zwotausender erinnert, kommt mir in Sachen Performance vor allem ein Vergleich in den Sinn: Lauryn Hill. Und ich meine damit nicht die Lauryn Hill von heute, die meistens nur pretenziös vor sich hinsabbelt, ich meine die Lauryn Hill aus den Neunzigern, die eine der wichtigsten Rapperinnen ihrer Zeit war. Genau wie sie hat auch Simz in den besten Momenten dieses Albums eine unwahrscheinliche Weisheit an sich, die sich auch nicht scheut, großkotzig und eingängig zu sein. Und beste Momente gibt es hier insgesamt wirklich viele. Die Ruhe der souligen Hook im orchestralen Chaos von Introvert, die zementierte Schwesternschaft mit Cleo Sol in Woman, der wüste Afrobeat-Anstrich von Point & Kill, der arschcoole Grime-Fetzen Rollin Stone, das autobiografische Empowerment-Storytelling-Meisterstück How Did You Get Here und der wunderbare Schlusstrich, den Simz mit Miss Understood unter dieses Erlebnis setzt. Dass das Album ohne den ein oder anderen Sockenschuss auskommt, bedeutet das aber leider nicht. So finde ich beispielsweise viele der pathetischen Interludes wie the Garden oder the Rapper That Came to Tea furchtbar unnötig, Tracks wie I See You oder Gems fühlen sich ziemlich füllerig an und an manchen Stellen, wie in Never Make Promises, wurde die Verfügbarkeit von Orchester und Chor auch für ziemlichen Humbug missbraucht, den am Ende niemand braucht. Nimmt man lediglich die Hauptsongs dieser LP und lässt das ganze Zwischendrin und Drumherum weg, dann ist Introvert wahrscheinlich eine der beeindruckendsten Hiphop-Platten der gesamten Saison, mit der ganzen Dichtungsmasse ist es leider bisweilen nicht so fokussiert, wie ich es mir gewünscht hätte. Dass es trotz allem eine bemerkenswerte Arbeit ist, sollte aber trotzdem klar sein. Denn auch wenn ich das Ergebnis insgesamt nicht absolut genial finde, ist das hier objektiv ein Album, das Little Simz als feste Größe in der Rap-Landschaft des Jahres 2021 zementiert. Ein Album, das man nicht mehr wegignorieren kann und das heraussticht wie ein Goldzahn. Womit es vor allem eines ist: Das Album, das Little Simz verdammt nochmal endlich verdient hat. Und das - nachdem alle damit fertig waren, über Drake abzulästern - doch noch die Platte wurde, über die letztes Wochenende alle reden wollten. Beziehungsweise mussten.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡08/11

 
Persönliche Höhepunkte
Introvert | Woman | Two Worlds Apart | I Love You, I Hate You | Little Q, Pt. 2 | Speed | Standing Ovation | Rollin Stone | Protect My Energy | Point & Kill | Fear No Man | How Did You Get Here | Miss Understood

Nicht mein Fall
the Rapper That Came to Tea | Never Make Promises | the Garden


Hat was von
Kanye West
My Beautiful Dark-Twisted Fantasies

Lauryn Hill
the Misseducation of Lauryn Hill


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen