Donnerstag, 2. September 2021

Das größtmögliche Szenario

Kanye West - DondaKANYE WEST
Donda
G.O.O.D. Music
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ provokant | performativ | überzogen ]

Die wichtigste Sache, die ich von der gesamten Aktion namens Donda bis jetzt mitgenommen habe ist die, dass sie in vielerlei Hinsicht ein Abschluss sein kann. Nicht nur der Abschluss einer Promophase, die sich bis zum endgültigen Veröffentlichungstermin der fertigen, offiziellen LP am vergangenen Sonntag mehr als ein ganzes Jahr hinzog, sondern gefühlt auch ein Abschluss mit dem künstlerischen Ideal, das Kanye Omari West nun schon mindestens die letzten sieben, acht Lenze zu vervollständigen sucht. So zumindest meine ganz persönliche Interpretation des hier gehörten Materials. Es ist der eine Stunde und achtundviertig Minuten lange Paukenschlag, mit dem er das Album macht, auf das er in meinen Augen seit etwa Yeezus stetig zutorkelt, die Erfüllung all dessen, was ein the Life of Pablo, ein Ye, ein Kids See Ghosts, ein Jesus is King und gefühlt ein halbes Dutzend nicht offiziell erschienene Projekte andeuteteten, aber niemals hätten sein können. Das eine große Ding, dass den Musiker, den Rapper, den Performer, den Exzentriker und den völlig geisteskranken Megatroll Kanye West in sich vereinen kann. In den entsprechenden Dimensionen. Trotz 27 Tracks und einer horrenden Überlänge ist die Diskussion, die aktuell um Donda stattfindet, schon wieder größer als die Platte an sich und genau das ist auf irgendeine Weise am Ende Teil des Kunstwerks: Die Freakshow vor ein paar Monaten mit den Listening Parties im Benz-Stadion, die schon fast Standard gewordene Social Media-Schlammschlacht, der Beef mit Drake und Universal und dass auf der fertigen Platte ganz bewusst zu Recht in Ungnade gefallene Künstler wie Dababy, Chris Brown und Marylin Manson zu hören sind. In der großen Kanye West-Show um Donda ist die eigentliche Platte nur mehr ein Schauplatz unter vielen, und man kann diskutieren, ob sie überhaupt der wesentliche ist. Was ich aber genauso finde ist, dass das, was letztendlich musikalisch passiert, der beste Kanye seit etlichen Jahren ist. Vielleicht der beste seit Yeezus, vielleicht der beste seit Dark Twisted Fantasies, vielleicht sogar der beste, den es je gab. Wobei ich auch definitiv Abstand nehmen würde, an Donda den gleichen Maßstab anzusetzen wie an eines dieser Alben. Ganz einfach weil die Form seiner Kraft eine ganz andere ist als die eines gewöhnlichen Longplayers. Das hier ist nicht Kanyes Dark Side of the Moon und nicht sein Nevermind, das hier ist eher sein weißes Album oder sein Sandinista. Ein Album, bei dem es vor allem beeindruckend ist, wie das Ding über die Zeit gebracht wurde. Mit dem zusätzlichen Faktor, dass es bisher die LP des Rappers ist, auf der er selbst am wenigsten zu hören ist. Den kollaborativen Spirit, der spätestens seit Yeezus alle seine Platten prägte, führt er hier auf seine bisherige Spitze und schafft mehr denn je ein Werk, auf dem er zurückhaltend kuratiert. Vokalistisch gibt es hier Tracks, die komplett ohne den Meister selbst auskommen, und die Gästeliste ist ebenso fett wie prominent. Obwohl zum Zeitpunkt an offizielle Credits schwer zu kommen ist, hört man die Namen an vielen Stellen heraus. Und dabei sind sie am Ende alle: Jay Electronica, Swizz Beatz, Ty Dolla $ign, Boi-1Da, Gesaffelstein, Pop Smoke, Griselda, Kid Cudi, Young Thug, Lil Yachty, Travis Scott, Lil Durk, Lil Baby, the Weeknd, Jay-Z und an gleich mehreren Stellen Playboi Carti. Als Produzent ist Kanye um einiges präsenter, aber ebenfalls immer Teil eines Teams, das im wesentlichen aus Vory, 88 Keys und Ojivolta besteht. Dass er Donda seinen klanglichen Stempel aufdrückt, ist aber trotzdem unmissverständlich. Die 27 Songs hier klingen alle wie welche, die schon seit langem irgendwie in Arbeit sind und die typische Soundästhetik aufnehmen, die West während der letzten Dekade kultiviert hat. Fast nie finden dabei große kompositorische Spitzen statt und nur eine handvoll Stücke hier würde ich als langfristige Einzeltrack-Favoriten des Kanye-Katalogs sehen, was aber auch nicht der Faktor ist, der Donda beeindruckend macht. Es ist die Art, wie hier Momente, Strophen, Ideen und Ästhetiken ineinander driften und die Platte in fast 2 Stunden so kurzweilig bleibt. Inklusiver all der kleinen Fehler, die zwischendurch definitiv passieren. Viel wurde sich im Internet während der letzten Tage über den dürftigen Mix des Albums aufgeregt, den ich aber eigentlich gar nicht so schlimm finde. Viel eher nervt mich der umfangreiche Reprisen-Part in den letzten vier Songs, der teilweise ganze Songs fast identisch wiederholt und hier auf grobschlächtige Weise ein stimmiges Ende ruiniert, die etwas heulsusigen Lyrics in Jesus Lord (auch dieser Track viel zu lang) oder der ziemlich überflüssige Opener. Sachen wie das memetische Globglogabgalab-Versatzstück in Remote Control sind dann allerdings wieder so whacky und abgedroschen, dass ich sie nur ziemlich abfeiern kann. Grundsätzlich hätte ich gerade jemandem wie Kanye West deutlich mehr bescheuerte Fettnäpfchen zugetraut, vor allem in Anbetracht der Spielzeit. Und dass er diese gekonnt umgeht, zeigt für mich, dass in Donda eben doch jede Menge drin steckt. Zumindest musikalisch. Denn wirft man nur einmal einen Blick in die Peripherie, sieht man plötzlich jede Menge Fettnäpfchen, die auch ich nicht einfach so billigend hinnehmen will. 2021 ist Kanye West lange nicht mehr nur ein kontroverser Superstar, sondern in vielen Belangen ein problematischer, was ja prinzipiell auch nichts neues ist. Aber selbst wenn man sich hier anschickt, die Kunst vom Künstler zu trennen und das hier für sich sprechen zu lassen, kommt man nur bedingt weit. Dass er nach wie vor ein bahnbrechender Protagonist der modernen Popkultur ist - nicht nur als Musiker und Rapper, auch als menschliches Gesamtwerk einer öffentlichen Person - ist aber ebenso wenig verwunderlich. In meinen Augen ist es am Ende nicht mal wirklich widersprüchlich. Es ist der Faktor, der eine LP wie Donda gleichzeitig so spannend und so ätzend macht. Nicht zuletzt deshalb, weil Kanye weiß, dass wir es wissen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Jail | God Breathed | Off the Grid | Hurricane | Praise God | Junya | Believe What I Say | 24 | Moon | Heaven & Hell | Keep My Spirit Alive | Lord I Need You | Pure Souls | Come to Life | Ok Ok Pt. 2

Nicht mein Fall
Donda Chant | Jesus Lord (Teil 1 und 2)


Hat was von
Travis Scott
Astroworld

Drake
Scorpion


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