Dienstag, 28. September 2021

Über den Jordan

INJURY RESERVE
By the Time I Get to Phoenix
Die-Ai-Wei
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ experimentell | verkunstet | düster ] 

Eigentlich sah es nach 2019 so aus, als würde die Karriere von Injury Reserve nach dem großen Anlauf, die die Band seit Mitte der letzten Dekade dafür genommen hatte, endlich richtig fahrt aufnehmen. Ihr selbstbetiteltes Debüt aus dem gleichen Jahr war nach den fantastischen ersten Mixtapes des Trios aus Arizona vielleicht nicht ihr insgesamt stärkstes künstlerisches Statement, aber auf jeden Fall ein souveränes und sorgte zumindest dafür, dass die Gruppe in den Medien noch mehr Rückenwind bekam. Kreativ waren Injury Reserve dabei spannend und waghalsig unterwegs, hatten aber stets die nötigen Hits, um weiterhin die Laufkundschaft abzuholen. Dass die aufregende Fahrt auf der Überholspur, die sie ihr gesamtes Bestehen über durchgehalten hatten, hier weitergehen würde, war also quasi vorprogrammiert. Zumindest bis zum Juli 2020, als völlig überraschend und nicht wenig tragisch mit Jordan Groggs eines der wichtigsten Bandmitglieder verstarb. Der Tod des Rappers fühlte sich im damaligen Affenzahn der Formation an wie eine fatale Vollbremsung, die für viele Fans und natürlich auch primär für die verbleibenden Kollegen ein Innehalten um Umdenken provozierte. Das Album, das letzte Woche als By the Time I Get to Phoenix erschienen ist, war zum Zeitpunkt des Ablebens von Groggs bereits zur Hälfte fertig, wurde jedoch gezwungenermaßen erstmal zur Seite gelegt, um das geschehene zu verarbeiten. Erst danach kamen langsam die Fragen: Wie weitermachen mit Injury Reserve, wenn überhaupt? Sollte das alte Material nochmal aufgenommen werden? Und wenn ja, würde es der Erinnerung des Partners und Freundes gerecht werden, das hier noch zu veröffentlichen? Stand heute wissen wir, dass die Band alle diese Fragen mit ja beantworten konnte. Wie eine Zäsur fühlt sich die Platte am Ende trotzdem an. Weil einfach nichts mehr übrig ist vom optimistischen Spirit, mit dem die Band einst in den Ring stieg, von den großen Punchlines, den derben Hooks und den bombastischen Beats. By the Time I Get to Phoenix ist ein avantgardistisches Monstrum von einem Hiphop-Album, das finster und melancholisch die Tatsache reflektiert, dass man eben nicht da weitermachen kann, wo das Debüt aufgehört hat. Und es bedeutet auch definitiv, dass das hier bis dato das komplizierteste Stück Musik von Injury Reserve ist. Es nimmt die vorsichtigen experimentellen Tendenzen, die die Gruppe bereits seit ihrem ersten Mixtape andeutete, und breitet sie über alles aus, was ihr Sound vorher bedeutete. Andockpunkte sind dabei Sachen wie Clipping, Death Grips, Dälek, Moor Mother und die verschrobeneren Eskapaden eines Kanye West, letztlich macht das Duo hier aber auch seine komplett eigene Sache. Nur wenige Songs oder Vignetten stechen dabei in Form eines bemerkenswerten Einzeltracks hervor, das meiste ist eher ein diffuser Glitch- und Noise-Teppich, über den verhuscht gerappt, gesungen oder gesampled wird. Erst am Ende der knapp 45 Minuten findet die Band mit Stücken wie Knees, Top Picks for You oder Postpostpartum zu sowas wie eigenständigen Songs, die dann aber auch richtig klasse sind. Und trotz seiner nebulösen Aura hat auch der erste Teil der LP in Form eines düsteren Flows seine Qualitäten und ist auf jeden Fall thematisch passend. Es ist dabei traurig, dass das bisher kreativste und mutigste Album von Injury Reserve aus einer solch bitteren Krise geboren wird, doch ist es auf seine Art auch ein großartiger Tribut an den späten Jordan Groggs. Nicht zuletzt deshalb, weil ja auch dieser noch ganz wesentlich an den radikalen Veränderungen beteiligt war, die die Band hier vollzieht. Das beste Werkstück der Gruppe ist es dabei am Ende nicht geworden, was aber im Anbetracht der Umstände alles andere als eine faire Kritik ist. Im Gegenteil: Aus einer solchen Umbruchs- und Depressionsphase mit einem solchen Produkt herauszugehen, ist ein extrem starkes Stück für jede Gruppe von Musiker*innen. Und es stimmt mich optimistisch, dass Injury Reserve spätestens dann wieder eine der beachtenswertesten Kräfte im Hiphop aktuellen Hiphop werden können, wenn sie die Reste des Schocks erstmal so richtig abgeschüttelt haben. Jordan Groggs hätte es ganz sicher so gewollt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡08/11

Persönliche Höhepunkte
Outside | Top Picks for You | Postpostpartum | Knees | Bye Storm

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Clipping
Visions of Bodies Being Burned

Death Grips
the Money Store


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