Dienstag, 15. März 2022

The Kids Are Alright

MICHELLE - After Dinner We Talk Dreams
MICHELLE
After Dinner We Talk Dreams
Canvasback | ATL
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ unverblümt | gemütlich | adoleszent ]

Es ist für jemanden wie mich immer eine einfache und nicht allzu nachdenkenswerte Sache, eine Platte oder Künstler*in hier als "zeitgenössisch" zu bezeichnen und meistens will ich damit auch tatsächlich einfach nur sagen, dass sie sehr gut in die jeweiligen musikalischen Trends passt und einer aktuellen klanglichen Mode entspricht. Trotzdem beobachte ich mit zunehmender Erfahrung und intensiverer Beobachtung verschiedener Zeitgeister auch durchaus, dass einige Platten das vielleicht mehr sind als andere und es eben nicht nur die einen Sorte zeitgenössischer Musik gibt, die irgendwie diffus einem ästhetischen Mainstream folgt, sondern auch jene, die in gewisser Weise Marker für die Zeit oder mitunter sogar das Jahr sein kann, in denen sie erscheint und stattfindet. Ob nun durch die Themen die sie lyrisch anspricht, durch Songwriting und Sound, durch Produktion oder manchmal auch durch alles zusammen. Und wenn mir in dieser Hinsicht eine Sache an einer LP wie After Dinner We Talk Dreams von Michelle aufgefallen ist, dann wie unmissverständlich sie ein Produkt der frühen Zwotausendzwanziger ist und wie sehr sie viele Ideen und Ästhetiken wiederspiegelt, die aktuell einen dominanten Zeitgeist ausmachen. Womit ich im übrigen nicht meine, dass sie in irgendeiner Weise total innovativ sein muss, beziehungsweise dass sie weniger gut wäre, weil sie das nicht ist. Es ist einfach eine Sache, die diese LP mir sehr stark kommuniziert und die ich als Attribut an ihr interessant finde. Wobei mich schon ein bisschen die Art und Weise fasziniert, wie Michelle das hier schaffen und wie es ganz sicher auch nicht zu hundert Prozent Absicht gewesen ist. Denn klanglich gesehen ist After Dinner eher im smarten R'n'B der Achtziger und Neunziger verwurzelt und sucht in seinem Songwriting eine austarierte Attitüde, die mich an die frühen Destiny's Child oder Missy Elliott erinnert. Zum einen sind das alles aber ästhetische Parameter, die mittlerweile durch Acts wie the Internet oder Benee wieder mitten im Mainstream gelandet sind, zum anderen könnte fast jeder dieser Tracks auch als chillig-funkiger Backdrop für virale Tiktok-Tanzvideos oder entschleunigte Lernplaylisten funktionieren. Dass Michelle aber auf der anderen Seite auch glasklare Melodiearbeit leisten und gerade im Mittelteil der Platte einen Jam nach dem anderen vom Stapel lassen, macht sie auch in einem eher traditonellen Sinne spannend und sorgt dafür, dass das hier am Ende eben doch mehr ist als nur gute Hintergrundmusik. Zumal die New Yorker auch durchaus eine Band sind, bei der man mal genauer auf die Texte hören kann, die für mich ebenfalls ein unverwechselbarer Marker für die Zeit und die Generation sind, aus der sie kommen. Sängerin Sofia D'Angelo hat dabei in meinen Augen das Talent vieler junger weiblicher Performer*innen, für ein gemütliches und freundliches Timbre nicht ihr eindeutiges und standhaftes Messaging zu opfern, das sich an vielen Punkten auch mit ungemütlichen Themen wie strukturellem Sexismus und mentaler Gesundheit auseinandersetzt und darin eine beneidenswerte Stärke zeigt. Und wenn diese vielen tollen Parameter dann auch noch so herrlich zusammenwirken wie in Songs wie 50/50 oder Pose und alles auch noch maximal stimmig ausproduziert ist, kommt über große Teile dieser 37 Minuten schon ein Sound rum, den ich nicht nur als einigermaßen repräsentativ für das generelle Feeling von Gen-Z-Internetpop halte, sondern der mich als Nicht-mehr-ganz-Angehörigen dieser Zielgruppe trotzdem richtig gut mitnimmt. Klar sitzt dabei noch nicht alles zu hundert Prozent am richtigen Fleck und gerade an Anfang und Ende fasert die Platte leider noch ein bisschen aus, für einige der besten Songs des Frühjahrs reicht es aber auf jeden Fall. Und mittelfristig haben wir mit Michelle auch nur eine weitere Band gefunden, die an Musik wie dieser hoffentlich noch wächst und vielleicht sogar einigermaßen erfolgreich damit ist. Den Tiktok-Sleeperhit würde ich ihnen an diesem Punkt definitiv gönnen, den ersten fetten Kritikliebling dann in zwei oder drei Jahren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Pose | Syncopate | No Signal | Talking to Myself | 50/50 | Looking Glass | My Friends

Nicht mein Fall
Expiration Date


Hat was von
the Internet
Ego Death

Arlo Parks
Collapsed in Sunbeams


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