Sonntag, 11. Dezember 2022

Saisonrückblick 2022 : Teil 03 : Verschiedenes


 

 
 
 
MUSIKALISCHE PERSÖNLICHKEIT DES JAHRES
TEX BRASKET
Es ist die eine Sache, dass Tex Brasket 2022 quasi im Alleingang dafür verantwortlich war, dass Slime wieder eine interessante Band geworden sind, aber nochmal eine völlig andere, warum das so ist. Denn wenn einer im deutschsprachigen Punkrock diese Saison etwas zu erzählen hat, dann definitiv er. Als ehemaliger Straßenmusiker, der in der Vergangenheit auch über längere Zeit auf besagter Straße lebte, nimmt er das neue Album der Hamburger als Ventil wahr, in dem er alle seine Geschichten aus dieser Zeit vollumfänglich channelt. Das ist dann bisweilen sehr emotionaler und harter Stoff, in dessen Hintergrund aber in jeder Zeile der Triumph darüber zu hören ist, dass diese Phase seines Lebens überwunden ist. Auch wenn die bösen Erinnerungen, die Wut aufs System und die Solidarität mit den Verbliebenen noch da sind und ebenfalls einen starken Eindruck auf der Platte hinterlassen.



ARSCH DES JAHRES
KANYE WEST
Dieses Jahr war es dann endlich auch bei mir so weit. Nach Jahren der Entschuldigungen und Rechtfertigungen, in denen ich das Verhalten dieses Typen entweder als künstlerischen Promo-Stunt oder psychische Challenge zu interpretieren versuchte (was ja beides auch nach wie vor ein Faktor ist), war es spätestens Ende 2021 doch glasklar, dass die ganze Nummer eben nicht mehr zurechtzuargumentieren war. Denn obwohl der Kanye West von 2022 sicher irgendwo eine Therapie nötig hätte und auch nach wie vor aus künstlerischen Gründen die provokation suchte, wurden 2022 doch diverse rote Linien überschritten, die definitiv nicht mehr klar gingen. Antisemitische Äußerungen in sozialen Medien, eine ekelhafte mediale Schlammschlacht um seine Scheidung, indiskutable Kommentare über George Floyd und zwischen allem die zwanghafte Tendenz, das alles in seinen Songs kommunizieren zu müssen. Womit wir 2022 auch endgültig an dem Punkt sind, wo auch die genialste Musik der Welt das nicht mehr aufwiegen kann.



ARBEITSTIERE DES JAHRES
KING GIZZARD & THE LIZARD WIZARD
Nachvollziehbare Kandidaten für diese Rubrik der Liste sind King Gizzard & the Lizard Wizard ja eigentlich so gut wie jedes Jahr und unter anderthalb neuen Platten der Australier fühlt sich eine Saison heutzutage nicht ganz vollwertig an. Mit nicht weniger als vier offiziellen Alben (drei davon innerhalb eines Monats), von denen eines ihr erstes Doppelalbum ist sowie einer Remix-LP (siehe unten) im Februar wurde 2022 nach 2017 das vielleicht produktivste Jahr ihrer Karriere. Und was noch besser ist: Vier der fünf Longplayer waren auch noch ziemlich gut und sorgten nach einer längeren Zeit der qualitativen Ambivalenz endlich wieder für Ausrufezeichen.



HIT DES JAHRES
KATE BUSH
RUNNING UP THAT HILL
Hat ja niemand gesagt, dass der Hit der Jahres auch tatsächlich aus dem besagten Jahr kommen muss, oder? Und wenn man sich die Konvergenz verschiedener Faktoren ansieht, die um diesen Song herum 2022 passierten, kann ich auch erklären, warum ich so denke.
Erstens: Es gab dieses Jahr nicht wirklich einen anderen sehr erfolgreichen Track, der sowohl in kommerzieller Tragweite als auch in musikalischer Überzeugungskraft für mich in dieser Rubrik relevant gewesen wäre (das eheste in der Richtung war noch Jungle von Fred Again, aber den würde ich nicht wirklich als Hit bezeichnen), weshalb die Alternativen eher wenig reichhaltig sind.
Zweitens: Running Up That Hill war 2022 tatsächlich ein Song, der diverse Rekorde brach und nochmal eine ganze Ecke erfolgreicher war als zu seinem ursprünglichen Release 1985. Stand jetzt ist es in vielen Ländern erst durch seine Renaissance diesen Sommer in den Charts gelandet.
Drittens: Durch die Art und Weise, wie der Song vor allem durch seine Popularität auf Tiktok und die Verwendung im Soundtrack von Stranger Things wieder bekannt wurde, sagt sein Erfolg viel darüber aus, auf welchen Wegen Musik dieser Tage zum Hit wird und ist in gewisser Weise exemplarisch für so manche Wiederentdeckung, die zuletzt so oder so ähnlich passierte.



Band, die ich dieses jahr auch endlich gut fand
Black Midi
Noch letztes Jahr landeten Black Midi im Äquivalent dieser Liste unter der Rubrik "Unverdientester Hype", was eine Aussage ist, zu der ich im Übrigen weiter stehe. Die ersten beiden Alben der Briten sind in meinen Augen weitaus nicht so cool und spannend, wie viele im Internet sie finden, sondern in meinen Augen nerdige Prog-Wichserei, auf die ich gut verzichten kann. Auf ihrem dritten Album Hellfire jedoch, das diesen Sommer erschien, fügt sich dieses Bild für mich dann doch langsam zu einem ansprechenden Ganzen. Die schrullige Gniedelei ist hier nicht nur Selbstzweck, sondern effektive Unterstützung starker Narrative und vor allem in Sachen Lyrics wird hier erstmals die Überzeugungsarbeit geleistet, die ich bei dieser Band brauchte. Das Ergebnis: Eine LP, die für mich tatsächlich einen Progrock-Entwurf für die Zwotausendzwanziger skizziert und diesen auch gleich gut umsetzt.



DÄMLICHSTER TREND
KI-ARTWORKS UND -VIDEOS
Ja wir wissen es, KI ist 2022 das große Thema in der Kunstdebatte und auch ich war im Sommer dabei, als jeder Depp und dessen Großmutter mit ulkigen Prompts bei Dall.E rumspielte. Dass aber so viele Künstler*innen sich dieses Jahr auch für ihre Artworks und Videos darauf stürzten, fand ich dann doch ein bisschen vorschnell und unüberlegt. Denn klar sieht es jetzt irgendwie spannend und neu aus, was ob der rasanten Entwicklung der Technologie aber sicher nicht lange der Fall sein wird und im schlimmsten Fall so endet wie die Sache mit den komischen CGI-Covern aus den späten Neunzigern. Vielleicht sollte man also warten, bis die Ergebnisse ein bisschen vorzeigbarer sind.
 
 
 
DÄMLICHSTE Kontroverse
LAYLA
Bloß zur Information: In vollständiger Länge habe ich den Song Layla von DJ Robin und Schürze bis zum heutigen Tag nicht gehört und ehrlich gesagt habe ich das auch nicht vor. Denn auch ohne den kompletten Track zu kennen erschließt sich meines Erachtens nach ziemlich klar die Sinnlosigkeit der Kontroverse darum. Wobei man grundsätzlich erstmal feststellen muss: Ja, es ist ein ziemlich ekelhaft sexistischer und frauenfeindlicher Text, den ich in keinster Weise schön finde. Nur erstaunt es mich, dass gerade an diesem, verhältnismäßig harmlosen Stück Mallorcamusik nun die große Debatte losbricht, wo Sexismus in dieser Sparte des deutschen Schlagers an sich nichts neues sein dürfte. Wenn es hier also etwas zu kritisieren gibt, dann ist das definitiv eine ganze Szenekultur, die sich keinesfalls auf den Inhalt eines einzigen Songs zurückführen lässt, sondern als solche leider tief verwurzelt in der hiesigen Schlagerlandschaft ist. Und dass hier von vielen nur die Spitze des Eisberges betrachtet wird, zeigt mir persönlich, dass dieser Umstand leider Gottes weniger bekannt ist als ich bisher dachte.



bestes Musikvideo des jahres
GRIMES
shinigami Eyes



UNWAHRSCHEINLICHSTER OHRWURM DES JAHRES
KENNY BEATS
ETERNAL



GRÖßTE ENTTÄUSCHUNG DES JAHRES
EDGAR WASSER
WTF IRL
Es gab mal eine Zeit, da hätte ich auf die Frage nach dem besten deutschsprachigen Rap-Lyriker ohne großes Überlegen die Antwort Edgar Wasser gegeben und ein Teil von mir glaubt vielleicht immer noch, das er das eigentlich ist. Doch nachdem es um seinen Output schon die letzten Jahre über immer wieder ein wenig bröckelte und seine Songs immer weniger überzeugend wurden, kam WTF IRL dieses Jahr leider auch nicht mehr als Schock. Auf bittere Weise zeigt dieses neue Album des Münchners, wie aus einem der cleversten sozialkritischen MCs der Republik ein zahnloser Zyniker geworden ist, der sich in seinen Songs mit stumpfer Kritik an gesellschafttlichen Allgemeinplätzen über Wasser hält und inhaltlich völlig uninteressant geworden ist. Wie genau das passieren konnte, ist mir an diesem Punkt immer noch ein großes Rätsel, doch die Eindrücke sprechen für sich. Und dass der Rapper sich so einfach von dieser Pleite erholt, sehe ich im Moment leider auch noch nicht so richtig kommen.
 
 
Edgar Wasser - WTF IRL SCHLECHTESTES ALBUM DeS JAHRES
EDGAR WASSER
WTF IRL
Siehe oben...










Positive überraschung des Jahres
Slime
Zwei
Slime - Zwei
Das letzte und vorletzte Album der Gruppe Slime hatte ich auf diesem Format noch jeweils mit drei beziehungsweise vier von elf Punkten ordentlich verrissen und hörte die Band um ehrlich zu sein nur noch der guten alten Zeiten wegen. Und es wäre ja auch okay gewesen, wenn eine der wichtigsten deutschen Punkrock-Institutionen nach fast vierzig Jahren Szenearbeit langsam ein bisschen oll wird und eben keine großen Banger mehr macht. Dann aber kam nach fast genauso langer Zeit mit Tex Brasket (siehe oben) plötzlich ein neuer Sänger dazu, dem nicht nur das kleine Wunder gelang, den Bandveteran und Mitbegründer Dicken Jora nach dieser halben Ewigkeit erfolgreich abzulösen, sondern der sogar noch eine ordentliche Schippe besser war als letzterer zu seinen besten Zeiten. Auf Zwei, dem ersten Album der Gruppe mit Brasket, klingen Slime in meinen Augen so gut und so spannend wie noch nie zuvor, was sicherlich über kaum eine Band nach über vier Dekaden ihres Bestehens sagen kann. Das Attribut "größte positive Überraschung" sollte hier also definitiv gegeben sein. 


COMEBACK des Jahres
Slime
Zwei
Siehe oben...




Zu unrecht verhasste Platte
Yeah Yeah Yeahs
Cool It Down
Yeah Yeah Yeahs - Cool It DownWie schon in den Jahren zuvor trifft es bei dieser Rubrik auch 2022 eine Band, bei der ich das Gefühl habe, dass viele einfach nicht zuhören wollten. Wobei ich in diesem Fall dabei auch mitgemeint bin. Der Abschied von den Yeah Yeah Yeahs war 2014 kein besonders ruhmreicher und auch wenn ihre alten Songs aus den Zwotausendern langsam zu Klassikern werden, waren viele wohl eher wenig scharf auf neues Material der New Yorker. Wider Erwarten ist die neue Platte aber ein echter Hingucker geworden und rettet viel von der verloren geglaubten Energie der Nuller in eine neue Dekade. Auch wenn ich anscheinend einer der wenigen bin, die das aktuell so sehen.



unBErechtIGTER HYPE
DOMI & JD BECK
Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, Domi & JD Beck als verhätschelte und privilegierte Industry Plants hinzustellen, die nur ihrer guten Connections wegen dieses Jahr auf dem Label von Anderson .Paak ihr Debüt veröffentlichen durften, denn das an sich ist mir eigentlich ziemlich egal. Was mir nicht egal ist, ist wie diese beiden KünstlerInnen darauf mit ziemlich schnarchigem Post-R'n'B-Gedudel, das zum letzten Mal 2015 neu und spannend war, einen der größten Newcomer-Hypes der laufenden Saison losgetreten haben und damit sogar noch für diverse Grammys nominiert wurden. Denn was hier passiert, haben viele andere Acts (unter anderem einige, die hier sogar als Gäste auftauchen) schon etliche Jahre vorher gemacht und in den allermeisten Fällen sogar wesentlich besser.



BEAT DES JAHRES
Black Thought & DANGER MOUSE
VIOLAS & LUPITAS
PRODUZIERT VON DANGER MOUSE
Es war schon relativ klar, dass diese Rubrik bei mir dieses Jahr an einen Song auf Cheat Codes gehen würde und von Anfang an war Violas & Lupitas dafür eines der stärksten Argumente. Als Closer am Ende eines extrem aufreibenden und actionreichen Albums ist dieser Song der optimale Moodsetter für einen der stilleren und meditativeren Momente von Black Thought, in der Schmerz und Hoffnung gleichermaßen Platz haben und es auch textlich nochmal ordentlich in die Farbe geht. Passend dazu flippt Danger Mouse hier ein sehr filigranes und herrlich organisch abgemischtes Soul-Instrumental, das ebenso melancholisch wie erhaben den Schlusstrich unter eines der besten Hiphop-Alben des Jahres setzt.



Songzeile DES JAHRES
"could you pencil in an industry outsider / yeah you're young but baby, you're not getting younger"
aus Funny Girl von Father John Misty



ARCHIVRELEASE DES JAHRES
Godspeed you! Black emperor
All lights fucked and the hairy amp drooling
God Speed You Black Emperor! - All Lights Fucked on the Hairy Amp DroolingFür einen Fan wie mich ist der endgültige und von der Band höchstselbst verifizierte Leak des ersten Godspeed-Albums eine der größten musikalischen Entdeckungen des Jahres und obwohl man All Lights Fucked aufgrund seines nach wie vor recht inoffiziellen Bootleg-Charakters nicht wirklich als Archivrelease bezeichnen kann, nimmt man in diesem Fall doch was man kriegt. Zumal es glücklicherweise auch eine ziemlich geniale Platte ist, die da jahrzehntelang im Verborgenen existierte. Ich will an dieser Stelle nicht zu weit in die Details gehen, denn ich werde der LP hoffentlich zeitnah einen eigenen Artikel widmen können, doch wollte ich 2022 nicht verstreichen lassen, ohne diesen Sensationsfund nicht wenigstens kommentiert zu haben.




REMIXPLATTE DES JAHRES
KING GIZZARD & THE LIZARD WIZARD
BUTTERFLY 3001
King Gizzard & The Lizard Wizard - Butterfly 3001Butterfly 3001 ist weiß Gott keine fantastische Platte und rangiert für mich auch eher im oberen Mittelfeld des allgemeinen King Gizzard-Katalogs, doch hat sie dieses Jahr eine Sache einwandfrei geleistet: Den unsäglichen Rohrkrepierer Butterfly 3000 von der Vorsaison doch noch irgendwie zu einer ansprechenden LP zu verwursten und damit das erste Remixalbum der Bandgeschichte zu einem kleinen Redemption Ark zu machen. Hilfe bekamen sie dabei von großen Namen wie Scientist, den Flaming Lips, DJ Shadow und DaM-Funk, die aus diesem Projekt hier einen bunten Fächer unterschiedlichster Stile machen, der dann auch stattliche 114 Minuten auf den Tacho bringt. Damit ist es zwar nicht das beste Album der Australier in dieser Saison, aber eines der interessanteren.



MONO - My Story, the Buraku Story (An Original Soundtrack)
Soundtrack DES JAHRES
Mono
My Story, the Buraku Story
Es ist keine außergewöhnliche Platte, die Mono hier machen und unter den gediegenen Postrock-Soundtracks der großen Szene-Acts eine eigentlich eher unscheinbare LP, doch macht sie damit jede Menge richtig. Schon in den Jahren davor hatten Mono bewiesen, dass sie mit der richtigen Mischung aus Passion und Nostalgie wieder richtig gute Musik machen können, und das hier ist nach Pilgrimage of the Soul von 2021 erneut ein schlagender Beweis dafür.




Konzeptalbum DES JAHRES
OG KEEMO
MAnn beisst hund
OG Keemo - Mann beisst HundEs mag keine sonderlich neue Art von Geschichte sein, die OG Keemo auf Mann beisst Hund erzählt und gerade der Schatten des Kendrick Lamar-Klassikers Good Kid, m.A.A.d. City liegt schwer auf der Platte, doch bedeutet das hier in keinem Moment, dass das Konzept des Mannheimers nicht stark wäre. Im Gegenteil: Wie selten sonst auf derartigen Storyalben kann ich mich hier auch emotional in das Erzählte einfühlen und erlebe die typischen Stationen von Keemos (Anti-)Heldenreise nicht als Plattitüden, sondern als ernsthafte Prüfungen, die mit jeder Menge Charakter erzählt werden. Was Mann beisst Hund zumindest für mich zu einem neuen Maßstab für Storytelling im Deutschrap erhebt. Vielleicht sogar darüber hinaus. 






Kurt Vile - (watch my moves)
GROWER DES JAHRES
KURT VILE
(WATCH MY MOVES)
Als ich (watch my moves) im April dieses Jahres das erste Mal hörte, sah ich es noch als einen gewaltigen Rückschritt für Kurt Vile im Sinne eines schnarchigen Monotonieklumpens, der mit über 70 Minuten auch definitiv zu lang war. Mittlerweile ist das Ding wahrscheinlich eine der Platten, die mir diese Saison am liebsten geworden sind. Und obgleich ich das noch immer nicht so richtig erklären kann und auch einsehe, wie das vielleicht ein ziemlicher Hot Take sein könnte, stehe ich an diesem Punkt doch dahinter, wie genial ich Viles zerstreuten Slackerrock finde.




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