Montag, 1. August 2022

Bosch, Brecht, Bungle

BLACK MIDI
Hellfire
Rough Trade
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ gniedelig | freaky | lyrisch ]

Kann man 2022 schon so weit gehen zu sagen, dass Black Midi gerade den Prog neu erfinden? Oder ist es am Ende sogar schon ein bisschen überfällig? Denn was die Briten seit ihrem Sensations-Debüt Schlagenheim von 2019 machen, hört sich für mich an vielen Stellen schon sehr danach an. Zwar stehen sie auf ihre Weise dabei auch in den Fußstapfen vieler unterschiedlicher Acts und sind darüber hinaus bei weitem nicht die einzige Band, denen man aktuell diese Rolle zuschreiben kann, doch lässt sich in meinen Augen zumindest das Argument machen, dass eine neue Form dieser Stilistik momentan im Entstehen ist und sie in dieser Metamorphose definitiv eine Schlüsselrolle spielen. Wobei ich bisher auch kein Fan von Black Midi sein musste, um diese Feststellung ganz objektiv zu machen. Im Gegenteil: Sowohl ihr umschwärmtes Debüt als auch dessen Nachfolger Cavalcade vom vergangenen Jahr waren Platten, die bei mir ein eher verhaltenes, wenn nicht gar ziemlich skeptisches Echo hervorriefen und für die ich mehr als Respekt für deren visionäre Kraft nicht wirklich aufbringen konnte. Und wenn ich ehrlich bin war das auch ein Urteil, das ich über ihr drittes und jüngstes Album Hellfire zunächst hatte. Denn ähnlich wie sein Vorgänger ächzt es ein bisschen unter seiner ganzen infernalischen Gniedelei, ist für seine knappen 38 Minuten klanglich ganz schön überladen und kultiviert eine morbide-karnevaleske Crazyness, an die man sich erstmal gewöhnen muss. Wo das bei Cavalcade aber die einzigen definierenden Merkmale der LP waren, unter deren Oberfläche meistens nicht viel los war, ist Hellfire vor allem songwriterisch eine ganz andere Bestie. Womit ich nicht nur meine, dass die einzelnen Songs sich hier stärker voneinander abheben und dadurch für sich besser charakterisiert sind, vor allem arbeiten Black Midi hier inhaltlich eine ganze Ecke besser. Nie im Leben hätte ich dabei gedacht, dass ich die Briten irgendwann mal als lyrische Band für mich entdecken würde, doch auf eine verschnickte Weise ist genau das der Zugang, den ich hier in ihre grellkunterbunt-kaputte Höllenmaschine gebraucht habe. Denn am Ende sind es vor allem anderen die verrückten Stories, die auf dieser Platte erzählt werden, mit denen der Rest erst so richtig hinhaut. Da gibt es Songs wie Sugar/Tzu, auf dem Sänger Geordie Greep einen imaginären Boxkampf moderiert oder the Defence, in dem er über einen Bordellbetreiber singt, der sein Metier moralisch rechtzufertigen versucht und noch ganz viele andere Nummern, deren Texte ich zwar nicht zu hundert Prozent raffe, die mich aber ohne Frage komplett in ihren Bann ziehen. Und nicht nur sind dabei fast alle Stücke lyrisch als Stories angelegt, sie alle durchzieht auch ein seltsam theatralischer Vibe, der mich an die verschiedensten Dinge von Hieronymus Boschs Weltgerichts-Tryptichon über Kurt Weills Dreigroschenoper bishin zu den Filmen von Baz Luhrmann erinnert. Und das sind allein die Referenzen, die nichts mit Musik zu tun haben. Schauen wir uns die an, bestätigt sich für mich die eingehende These mit der Neuformulierung des Prog durch Einflüsse von Leuten wie Frank Zappa, Mr. Bungle, Primus und Scott Walker, die hier aber auf völlig neue Weisen perspektiviert und vor allem stimmig zu einem Narrativ verwoben werden. Wobei Hellfire in der Hisicht auch ein bisschen die Platte ist, die For the First Time von Black Country, New Road wahrscheinlich gerne gewesen wäre. Fehlerfrei ist sie dabei wie gesagt keinesfalls und noch immer gibt es einige Sachen, die mich an dieser Band effektiv stören. Doch erkenne ich hier nun auch endlich mal, was ein Konzept wie das von Black Midi leisten kann, wenn es wirklich mal alle kreativen Öfen anfeuert und sich auch inhaltlich ein bisschen über die übliche Erwartungshaltung hinausbewegt. Und das in mir die Hoffnung aufkeimen lässt, dass bis hierhin vielleicht alles nur kompositorische Selbstfindung war und wir jetzt erst so richtig erleben, was diese Jungs können. Was im Klartext heißt: Hoffentlich noch mehr hiervon.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
Sugar/Tzu | Welcome to Hell | Still | the Defence | 27 Questions

Nicht mein Fall
-

Hat was von
Black Country, New Road
For the First Time

Primus
Frizzle Fry


1000kilosonar bei last.fm  

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