Mittwoch, 4. Juli 2018

Der Gipfel




















Hätte man vor zehn Jahren ein Album als "die wichtigste Jazzplatte des Jahres" angekündigt, wären wahrscheinlich die ersten paar Leute direkt nach diesem Opener schon weggepennt. Für sehr lange Zeit galt Jazz nämlich als langweiliges Feuilleton-Genre, in dem irgendwelche privilegierten Musikstudent*innen einer quasi toten Kultur huldigten, die spätestens seit den Neunzigern auch hauptsächlich nur noch aus technischer Reproduktion bestand. Progressivität oder gar Action war in vielen Phänomenen dieser Stilrichtung nur noch theoretisch vorhanden und dass viele Künstler*innen völlig verkopft spielten, war ein berechtigter Vorwurf. Hätte man mich damals gefragt, hätte ich Jazz in seiner zeitgenössischen Ausprägung nicht mehr als ein Nischendasein für die nächsten eine Million Jahre prophezeit. Stand 2018 ist allerdings mehr oder weniger das Gegenteil der Fall: Betrachtet man sich die Szene heute, sehe zumindest ich eine der momentan innovativsten Kräfte für neue Musik, die über die letzten Jahre extrem starke kreative Impulse gesetzt hat und in der vor allem wieder eine Energie zu spüren ist, die wahnsinnig inspirierend ist. Künstler*innen wie Badbadnotgood, Thundercat, Kamasi Washington oder Christian Scott Atunde Adjuah ist es zu verdanken, dass sich das so entwickelt hat, was vor allem auch daran liegt, dass sich diese Leute nicht mehr so sehr vor der Popmusik fürchten. Besonders Einflüsse aus dem Hiphop, der ja selbst ohne Jazzmusik nicht existieren würde, sind in den letzten Jahren extrem wichtig gewesen, um Bewegung in die Szene zu bringen und auch erfolgreiche Rapper*innen wie Kendrick Lamar, Tyler, the Creator oder Ghostface Killah haben selbige immer wieder gepusht. Durch diese starken Aufrüttlungen kann man mittlerweile sagen, dass Jazz wieder eine der spannendsten Sachen ist, die in der modernen Musik gerade passiert und wenn es dafür so etwas wie ein Mainfest gibt, dann ist es mit Sicherheit das vorliegende Album. Was sich hier so verkunstet unter dem kryptischen Namen R+R=Now versammelt, ist nämlich nicht weniger als ein kleiner Teil der Leute, die vereinzelt Teil des bisherigen Movements waren und sich hier erstmals als Kollektiv zusammenraufen. Vor allem die lokale Bohème von Houston schart Band-Host Robert Glasper hier um sich, unter anderem eben einen Christian Scott Atunde Adjuah, einen Terrace Martin, einen Taylor McFerrin. Andere Mitmusiker kommen aus den Bands bekannter Acts wie Esperanza Spalding oder gehören zum Produktionsstab von Kendrick Lamar oder Kamasi Washington. Hier von einer Supergroup zu sprechen, ist also mehr als angebracht. Vor allem sitzen in den Reihen von R+R=Now aber die Köpfe, die gerade ein ganzes Genre neu denken, was Collagically Speaking folglich zu einem Schlüsselprojekt für diese neue Entwicklung macht. Wenn schon allein die Houstoner Zelle genug Mythos angesammelt hat, um so ein Album zu machen, muss schon echt was los sein. Und diese LP nagelt diese Spekulation ein für allemal fest, wobei sie sich selbst auch ein bisschen als Standardwerk des ganzen fühlt. Mit 73 Minuten Spielzeit ist sie ein ziemlicher Brocken, der ganz klar die Geduld der Hörenden einfordert, dafür aber auch das komplette Spektrum bietet: Smooth Jazz trifft hier auf Autotune-R'n'B, lange Improvisationen auf Hiphop-Parts, Synthesizer auf Saxofone. Tradition ist auf Collagically Speaking nicht mehr als Mittel zum Zweck und die Leinwand, auf die mit dicken Pinselstrichen bunte Farbe aufgetragen wird. Zwar sind das alles Dinge, die man beispielsweise bei Thundercat oder bei Christian Scott schon mal gehört hat, aber hier treten sie erstmal so verdichtet auf und bilden eine Art Think Tank einzelner Ideen, die hier erstmals auf diese Art kollektiviert werden. Das erstaunliche dabei ist, das dieser Plan hier auch einigermaßen aufgeht. Ich will nicht zynisch klingen, aber genau das eben beschriebene Vorhaben ging im künstlerischen Kontext bisher häufiger schief als dass es funktionierte. Schuld am Gelingen hier sind meiner Meinung nach aber vor allem die hervorragenden Einzelleistungen der unterschiedlichen Musiker. Terrace Martins und Robert Glaspers Keyboard-Flächen sind in vielen Songs die optimale Basis für die smoothen und doch actionreichen Stücke, Christian Scott spielt fantatische Soli und mit Derrick Hodge ist hier jemand am Bass zuständig, der es auf der einen Seite versteht, sich in einen Gesamtklang einzufügen, der aber auch mit genialen Stunt-Einlagen ausbrechen kann. Wenn ich einen persönlichen Favoriten benennen muss, ist es aber definitiv Drummer Justin Tyson, der die Essenz dieses Projektes aufgesogen hat wie kein Anderer. Seine Performance hier mischt immer wieder klassisches Jazz-Schlagzeugspiel mit frischen Anklängen aus Electronica und Hiphop. Dabei kann er sowohl fokussiert und mechanisch spielen als auch ätherisch und weitläufig, was bei diesen Songs so unglaublich viel ausmacht. In einem Raum voller sehr talentierter Musiker ist er definitiv das Rückgrat, das diese Party erst richtig spaßig macht. Bei allem Lob ist diese LP aber auch nicht frei von Störfaktoren. Zwar muss man sagen, dass Collagically Speaking für seine doch sehr umfangreiche Spieldauer nie langweilig wird, dennoch fehlt mir an manchen Stellen doch etwas die Abwechslung. Das Kollektiv spielt viele sehr gediegene Tracks, denen auf lange Sicht dann doch irgendwie die Kontrastierung fehlt. Was in dieser Hinsicht leider auch überhaupt nicht hilft, sind die Gäste auf diesem Album. Die Idee, mit ein paar Rappern und Spoken-Word-Acts die sonst gänzlich instrumentale Platte aufzupeppen, ist an sich nicht schlecht, doch sind die Beiträge hier einfach zu schwach. Stalleys Strophe in Reflect Reprise ist ganz gut und Amanda Seales macht HER=NOW auch nicht unbedingt schlechter, doch eine wirklich aufregende Performance erlebt man von den Vokalist*innen hier nicht. In vielen Fällen wäre es sogar besser gewesen, sie wegzulassen. Eine insgesamt ziemlich gute LP zu ruinieren, gelingt ihnen aber auch nicht. Zumindest wenn man akzeptiert, dass Collagically Speaking auch insgesamt kein revolutionäres Projekt geworden ist. Klar ist es ein wichtiger Fokuspunkt für Jazzmusik allgemein im Jahr 2018 und es bindet verschiedene Kräfte erstmals zusammen, doch ist es auch ein atemberaubendes Hörerlebnis? In meinen Augen eher nicht. Ein solides Album auf jeden Fall, aber weder einer meiner Favoriten für dieses Jahr, noch im zeitgenössischen Genre-Kontext. Wenn es darum geht, sind die hier mitwirkenden Künstler dann vielleicht doch solo ein bisschen besser. Demokratische Arbeitsweisen sind eben nicht in jedem Falle die beste Wahl.






Persönliche Highlights: Awake to You / By Design / Resting Warrior / Reflect Reprise / HER=NOW / Respond / Been On My Mind

Nicht mein Fall: Needed You Still

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