Dienstag, 24. Juli 2018

Der Chamäleon-Mann




















Eine der gleichzeitig tollsten und schlimmsten Sachen an den Dirty Projectors ist, dass sie als Projekt eigentlich überhaupt nicht richtig zu fassen sind. So wandelbar und ständig beweglich wie diese "Band" haben sich wenige Acts im neuen Jahrtausend gezeigt und die Tatsache, dass man es sich schon lange abgewöhnt hat, Erwartungshaltungen und Settings gegenüber neuen Material zu entwickeln, macht ihren Output gleichzeitig faszinierend und strapazierend. Immerzu geht es bei ihnen weiter, innerhalb von Monaten kann sich ihre gesamte künstlerische Ansatzweise in ihre Einzelteile auflösen, um sich wenig später ganz neu zusammenzusetzen. Und gerade im letzten Jahr konnte man das wieder mal sehr beeindrucken erleben. Spult man die Zeit um 365 Tage zurück, reden wir von Dirty Projectors als dem reinen Soloprojekt von Mastermind Dave Longstreth, der mit diesem gerade seinen Einstand als experimenteller R'n'B-Musiker gemacht hat. Das letzte, selbstbetitelte Album ist ein zerfahrenes Konzeptwerk über das Ende einer Beziehung, auf dem er zwischen Autotune-Balladen und elektronischem Gefrickel eine sehr spezielle Form der Melancholie findet. Zurück in der Gegenwart sind Dirty Projectors wieder eine Band mit (bis auf Longstreth selbst) völlig neuen Mitgliedern und einem klanglichen Konzept, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Im Sommer 2018 sind die Top-Themen der New Yorker kauziger Mathrock, exotisches Analog-Instrumentarium, Freak Folk, Animal Collective und Neo-Soul, von Melancholie ist nichts mehr zu spüren. Lamp Lit Prose dürfte im Gegenteil eines der bisher abenteuerlichsten Projekte der Projectors sein, das selbst im Vergleich mit dem ja auch schon ziemlich seltsamen Vorgänger ganz schon abgedreht ist. Von dort kannte man schon Longstreths Vorliebe für nachträgliche geschnippelte Soundcollagen, dicke Bläsersätze und ein gewöhnungsbedürftiges Verständnis von Soulmusik. Diese Faktoren finden hier erneut Platz, bekommen aber auch noch jede Menge Gesellschaft. Zum einen stilistisch, in Form musikalischer Impulse von Metal bis Mambo, zum anderen ganz konkret durch ziemlich viele ziemlich interessante Gastmusiker. So ist im Opener die großartige Syd als Duettpartnerin dabei, Soul-Diva Amber Mark unterstützt die lateinamerikanisch anmutende Nummer I Feel Energy, Empress of hilft im sehr rockigen Zombie Conqueror und in You're the One gehen der Band mit Robin Pecknold (Fleet Foxes) und Rostam Batmanglij (Vampire Weekend) gleich zwei weitere Indie-Legenden zur Hand. Und obwohl diese Features und auch der Beitrag der anderen Musiker*innen sicherlich eine Menge zum Gesamtergebnis beitragen, ist es am Ende doch noch immer die Arbeit von Longstreth, die dieses Album wirklich zu dem macht, was es ist. Zwar ist Lamp Lit Prose ästhetisch eine vollkommen andere Baustelle, dennoch hört man die starke Handschrift seines Masterminds hier in fast jedem Ton. Die zusammengeschusterten, extrem farbenfrohen Instrumentals, gepaart mit den klaren, Folk-inspirierten Vokalpassagen (diesmal eben ohne Autotune) erkennt man direkt ab der ersten Sekunde wieder und sie machen auch diese LP erneut zu einem Erlebnis. Ganz so gelungen wie das selbstbetitelte Album ist das hier am Ende nicht, dafür fehlt ein bisschen das geniale Konzept und die Konsistenz, dennoch erlebt man Longstreth auch hier als einen Experimentalmusiker von unglaublichem Format, der ohne Frage ein Meister seines Fachs ist. Das zeigt sich nicht zuletzt dadurch, dass er es innerhalb eines Jahres geschafft hat, mehr oder weniger komplett die Haut zu wechseln und dennoch vollkommen einzigartig zu bleiben. Und wenn das hier nicht seine beste Platte ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste wieder richtig klasse wird, auf jeden Fall gegeben. Genauso gut könnte sie aber komplette Grütze werden, denn bei den Dirty Projectors weiß man eben nie, was man bekommt.






Persönliche Highlights: Right Now / I Feel Energy / Zombie Conqueror / (I Wanna) Feel It All

Nicht mein Fall: What is the Time / You're the One

CWTE auf Facebook

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen