Montag, 2. Juli 2018

Die Wiedergeborene




















Die letzten zehn Jahre waren - vorsichtig ausgedrückt - nicht gerade die beste Zeit für Christina Aguilera. Als Popstar der ganz späten Neunziger sah es für sie zu Anfang der aktuellen Dekade immer mehr so aus, als gehöre sie zur Riege der Popstars wie Britney Spears, Shakira und Nelly Furtado, die irgendwie ausgemustert gehörten. Ihre traditionell sehr kraftvolle Art und Weise von R'n'B war im Moment der Eroberung des Mainstream durch den Indiepop alles andere als angesagt und ganz sicher war die Sängerin auch kreativ ausgebrannt. Ihr 2010 veröffentlichtes Album Bionic war nicht nur kommerziell ein totaler Flop, von Lotus zwei Jahre später nahm im Business kaum noch jemand Notiz und für die darauf folgenden Jahre war mehr oder weniger komplett Schluss mit neuer Musik von Aguilera. Wenn man sich ihre Karriere in den gesamten letzten fünf bis sechs Jahren ansieht, kann man fast vom klinischen Tod von ihr als musikalische Person sprechen. Doch umso tiefer der Fall, umso schöner ist es, wenn an die künstlerische Flaute eine neue Erfolgsstory anschließt. Und was für einen besseren Zeitpunkt gibt es dafür als das Jahr 2018? Nicht nur haben mittlerweile viele Kolleg*innen von damals das Geschäft ebenfalls wieder angekurbelt und gezeigt, wie eine stilistische Grunderneuerung heutzutage funktioniert, auch ist die musikalische Ära der späten Neunziger und frühen Nuller, aus der Aguilera ursprünglich stammt, gerade ein bisschen der Shit. Nichtsdestotrotz geht natürlich nichts ohne ein stabiles Album als Zement für das gelungene Comeback und in diesem Fall auch einen mittelgroßen Stilbruch. Christina Aguilera will modern klingen, künstlerische Reife beweisen und mit einem besonderen, gewissen Etwas die verlorene Aufmerksamkeit zurück auf sich und ihre Musik ziehen. Eine nicht gerade niedrige Hürde, aber eine Sache, die mit etwas Feingefühl und den richtigen Producer*innen selbst Britney Spears hingekriegt hat. Wobei Accelerate, die erste neue Single von Aguilera in diesem Jahr, erstmal ein ziemlicher Schuss in den Ofen war. Mit einem schlafzimmerigen Trap-Beat und 2 Chainz und Ty Dolla $ign als exklusive Features wirkte der Track ein bisschen wie eine gekrampfte Marketing-Aktion im Madonna-Stil, um junges Publikum anzuziehen. Das extrem naiv-versexte Video mit einer mittlerweile fast Vierzigjährigen Aguilera in der Hauptrolle half da nicht unbedingt. Doch zumindest meine Aufmerksamkeit hatte die Sängerin damit schon mal auf ihrer Seite. Bei aller Liederlichkeit war Accelerate definitiv etwas sehr spezielles und ließ mich glücklicherweise am Ball bleiben, denn die richtig guten Songs kamen erst danach. Mit Fall in Line und Like I Do machte mich Aguilera in den letzten Wochen nicht nur neugierig auf das kommende Album, sondern säte in mir die Hoffnung, hier etwas ernsthaft gutes zu erleben. Und tatsächlich ist das fertige Liberation in seiner Gesamtheit nun das vielleicht beste Projekt der Sängerin überhaupt geworden. Mehr noch, unter den vielen neuen Platten alter Popstars dürfte das hier das bisher beste sein, das ich gehört habe. Besser als Beyoncés Lemonade, besser als Glory von Britney Spears, vielleicht sogar ein bisschen besser als the Ride von Nelly Furtado. Hauptsächlich liegt das daran, dass auf dieser LP wirklich versucht wurde, ehrlich kreativ zu sein, anstatt alles künstlich auf eine jugendliche Zielgruppe zu fräsen. Dabei heißt das auch, dass der Name Christina Aguilera nicht nur erneuert wird, sondern man sich auf auf alte Stärken besinnt. Eine Powerballade wie Twice oder ein Soul-Banger wie Sick of Sittin' hätte man von ihr so ähnlich auch 2001 hören können, andere Tracks wie das Reggae-infizierte Right Moves oder das funkige Like I Do greifen sich schicke Retro-Bezüge und wieder andere Nummern verirren sich zwischen zeitgemäßem Mainstream-Pop (also Hiphop) und verkunsteter Geste. Wobei die meisten Experimente, die auf Liberation passieren, tatsächlich von Erfolg gekrönt sind. Ein epochales Orchester-Intro beißt sich kein bisschen mit Trap-Avancen, laszive Slowjams nicht mit vorsichtig politischen Andeutungen und Wände durchbrechender Soul nicht mit klanglicher Zurückhaltung. Auch dass die Platte auf ihrer Gästeliste größtenteils unbekanntere Künstler*innen wie Goldlink, Keida, Shenseea oder XNDA stehen hat, ist sehr spannend. Quavo und Ed Sheeran haben wir sowieso alle schon einmal zu oft gehört. Und wenn es einwas gibt, was mich hier wirklich stört, dann ist es der sehr hohe künstlerische Selbstanspruch, die diese LP hat. Im Sinne eines Stilbruches macht Christina Aguilera hier in keinem Moment einen Hehl daraus, dass Liberation für sie nicht weniger ist als ein Artpop-Gesamtwerk, weshalb ungefähr die Hälfte der Spielzeit mit ziemlich überflüssigen und pretenziösen Interludes durchsetzt ist, die wenig bis gar nichts beitragen. Wären die Songs zwischendurch nicht so großartig, würde diese Einstellung wahrscheinlich weite Teile des Albums ruinieren, so ist es nur ein kleiner doofer Störfaktor. Insgesamt überwiegt zumindest bei mir nämlich die Begeisterung, dass eine so tolle Platte wie diese von einer Künstlerin kommt, die nicht nur als kommerzielle Pop-Diva verschrien ist, sondern eigentlich nicht mal das zuletzt besonders gut hingekriegt hat. Insofern ist Liberation weniger ein Comeback als eine komplett neue Form für Christina Aguilera, in der man sie noch nie gehört hat. Vielleicht ist diese nicht unbedingt für Chartplatzierungen und Spotify-Playlisten gemacht, dafür ist es durchaus möglich, dass Leute sich auch nachhaltig an dieses Album erinnern. Verdient hätte es dieses Projekt in meinen Augen auf jeden Fall.






Persönliche Highlights: Liberation / Sick of Sittin' / Fall in Line / Right Moves / Like I Do / Twice / Accelerate / Unless It's With You

Nicht mein Fall: Dreamers

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