Montag, 10. Dezember 2018

Mitten im Leben


Man muss dem Herbert mit seinen inzwischen über 60 Jahren ja eines lassen: Von den weit fast 40 Jahren, die er inzwischen schon aktiv ist, sind die letzten zehn vielleicht die interessantesten gewesen. Legendäre Platten wie 4630 Bochum oder Mensch in allen Ehren, aber so richtig eskaliert ist der mutmaßlich größte deutsche Popstar erst nach seinem fünfzigsten Geburtstag. Seitdem sieht man ihn auf der Bühne mit Chris Martin und Bono, er kollaboriert mit jungen EDM-Produzenten und hat vor drei Jahren sogar einen Track für seine alten Kumpels Gang of Four eingesungen. Auf ein stilles Alterswerk wartet man bei ihm ebenso vergeblich wie auf einen bescheidenen Abtritt. Und wieso auch? Dass er nicht jünger wird, ändert nichts daran, dass er nach wie vor weiß, wie man einen Hit schreibt und die Stadien der Republik sein zweites Zuhause sind. Das unterscheidet ihn letztendlich von abgehangenen Nostalgie-Bolzen wie Lindenberg oder Westernhagen und ist der Grund, warum Grönemeyer nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart deutschsprachiger Popmusik ist. Und gerade Tumult, seine fünfzehnte (!) Langspielplatte, zeigt das wieder mal sehr deutlich. Nachdem Dauernd Jetzt vor vier Jahren eher ein bisschen behutsam vorging und sichere Stücke vorlegte, war diesmal schon in der Promophase klar, dass Herbert wieder größere Risiken eingehen wollte. Auf der Leadsingle Doppelherz/İki Gönlüm sang er unter anderem auf türkisch und holte sich den Rapper BRKN mit ins Boot, eine sicherer Einstand hört sich definitiv anders an. Klar war es ein Popsong, aber eben keiner, den man ausgerechnet von diesem Typen erwartet hätte. Und ich bin froh zu sagen, dass sich diese Attitüde durch das gesamte neue Album zieht. Weder ist es sonderlich experimentell noch unnahbar, doch es hat den Schneid, nicht nach kompositorischen Klischees zu arbeiten, mit Erwartungen zu brechen und 40 Jahre Grönemeyer-Songwriting zur Disposition zu stellen. Bist du da beginnt den Refrain mit einem opulenten Synth-Break, Fall der Fälle arbeitet sehr unkonventionell mit Backing Vocals und Taufrisch wärmt die alte Liebe des Bochumers zu Latin-Pop auf. Nicht alles, was Grönemeyer dabei sät, geht auch wirklich optimal auf, doch allein den Versuch muss man einem gestandenen Routinier wie ihm anrechnen. Und auch als Songwriter und Texter zeigt er sich hier nach wie vor stark. Wer nach der klassischen Ästhetik früherer Platten sucht, findet diese in Balladen wie Sekundenglück und Warum, aber auch schmissige Tracks gehen ihm nach wie vor leicht von der Hand. Ganz zu schweigen davon, dass wieder mal vieles an seinen Fähigkeiten als Performer und an seinem eigenwilligen Soul-Timbre hängt. Dass Tumult ein bisschen ein politisches Album wäre, war zuletzt immer ein wenig der große Aufhänger dieser LP, der in Stücken wie Fall der Fälle oder La Bonifica auch durchsickert. Ein tatsächliches Narrativ ist das ganze allerdings nicht. Grönemeyer schreibt über vielfältige Themen, teilweise sind diese auch nicht wirklich klar, tatsächlich finde ich das aber auch besser so. Denn wie man hier sehr gut erlebt, ist er gerade dann am besten, wenn er sich nicht beschränkt. Tumult ist mehr als seine Vorgänger ein musikalischer Spielplatz für den Bochumer, der in seiner Weitläufigkeit seine höchste Qualität erreicht. Es zeigt, dass es für Herbert Grönemeyer nicht damit getan ist, mit Musik aus den Achtzigern Stadien auszuverkaufen, sondern dass er immer noch ein Songwriter ist, der sich ausprobieren will. Und das sollte man ihm nicht nehmen wollen, denn langweilige Alt-Popstars gibt es schon genügend.


Persönliche Highlights: Sekundenglück / Doppelherz/İki Gönlüm / Bist du da / Warum / Leichtsinn & Liebe / Der Held / Wartezimmer der Welt

Nicht mein Fall: Lebe mit mir los / La Bonifica

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