Mittwoch, 19. Dezember 2018

Wohin du gehst




















"Für das erste Album hat man sein ganzes Leben Zeit, für das zweite zwei Jahre", pflegt man bei den Musikindustriebossen immer zu sagen. Ein Spruch, den man bringt, wenn immer Künstler*innen nach ihrem Debüt nicht mehr weiter wissen oder nach spektakulären Einständen plötzlich an den eigenen Ansprüchen verkacken. Ein Spruch, der in der Theorie für eine Band wie Annenmaykantereit gemacht scheint. Als deren erster Longplayer Alles nix konkretes im Februar 2016 erschien, war er eigentlich schon lange überfällig. Monate und Jahre hatte das Quartett aus Köln sich Zeit gelassen, ewig an ihrem Erstling herumgedoktert, hier und da Promomaterial veröffentlicht, aber zum großen Teil vor allem die Geduld ihrer Fans auf die Probe gestellt. Ökonomisch in Zeiten der medialen Reizüberflutung alles andere als schlau, aber am Ende auch einer der Gründe, warum die Platte am Ende so gut war. Ich weiß, es ist uncool, sich 2018 auf Songs wie Barfuß am Klavier oder 3. Stock zu berufen, aber ich weiß genauso gut, dass eben diese Songs vor drei Jahren auch in deiner WG auf Dauerschleife liefen. Und ich stelle mich nach wie vor hinter meine Aussage vom Dezember des selben Jahres, dass Annenmaykantereit mit Alles nix konkretes ein Album mit extrem viel Identifikationspotenzial aufgenommen haben. Ganz objektiv aber auch eines, das ein unbestreitbarer Kassenschlager war. Was das mit den Erwartungen für einen Nachfolger macht, muss ich sicherlich nicht weiter betonen. Das Problem diesmal: Zeit ist Geld. Eine weitere Produktionsphase von fünf Jahren hätte hier sicherlich niemand mehr durchgewunken und angesichts der generellen Release-Müdigkeit dieser Band bin ich nun doch überrascht, wie schnell es hier am Ende gegangen ist mit der neuen LP. Was mich im Vorfeld aber auch zweifeln ließ: Würde sich Schlagschatten nur drei Jahre nach dem Debüt vielleicht gehetzt anhören? Schnelle, einfache Lösungen statt kompositorischer Tiefe? Lieber seichte Popsongs als Stücke, die tatsächlich Emotionen hervorrufen? Die Entwarnung an dieser Stelle kann ich gleich geben: Annenmaykantereit sind noch immer eine Band mit Herz und Hirn und wer die Ästhetik von Alles nix konkretes mochte, wird mit ziemlicher Sicherheit auch das hier mögen. Schlagschatten ist zu hundert Prozent der Nachfolger, den sich ganz bestimmt die meisten Fans gewünscht haben. Unterschiede, die es definitiv gibt, sind eher in den Details zu finden. Viele Songs hier sind vielleicht ein kleines bisschen optimistischer und weniger schnulzig als auf dem Debüt, der Prozentsatz von Klavier und Gitarren verschiebt sich mehr zu letzterem und Henning Mays Texte sind ein Stück abstrakter geworden. Kleine Veränderungen, die Kreativität zeigen, aber nicht am Status Quo rütteln. Eigentlich alles so, wie man es zurückgelassen hat. Wenn ich mich darauf festnageln müsste, würde ich trotzdem sagen, dass Annenmaykantereit hier im Vergleich zum Vorgänger ein kleines bisschen schwächeln. Das ist nicht schlimm, denn besagter Vorgänger war ein absolutes Ausnahme-Album. Wenn mir hier nicht jeder Track das Herz auf den Händen trägt, ich mich nur noch in manchen Zeilen wiederfinde und in den WGs in Zukunft nur ein, zwei Singles von dieser Platte in Dauerschleife laufen, heißt das lange nicht, dass die Kölner hier keine gute Arbeit gemacht haben. Es ist am Ende auch ganz natürlich: Henning May schreibt hier nicht mehr als irgendein Typ Mitte Zwanzig, der die gleichen Luxusprobleme hat wie andere Typen Mitte Zwanzig, sondern als Promi. Da geht es um ewige Touren (Marie), ums nach langer Zeit nach Hause kommen (Alle Fragen) und um Drogenprobleme (Schon krass). Und obgleich das heißt, dass die Stücke hier nicht mehr so nah am Verbrauchenden sind, sind sie deshalb lange nicht weniger ehrlich. Auch wenn Tracks wie Weiße Wand oder Jenny Jenny tatsächlich ein bisschen husch husch klingen. Schlagschatten wird ganz sicher nicht die Strahlkraft entwickeln, die Alles nix konkretes vor drei Jahren hatte und vielleicht auch in Vergessenheit geraten. In vielerlei Hinsicht ist es aber trotzdem der beste Nachfolger, den Annenmaykantereit ihrem überlebensgroßen Einstand schreiben konnten. Insbesondere, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit sie dafür hatten.






Persönliche Highlights: Marie / Nur wegen dir / Freitagabend / Alle Fragen / Du bist anders / Schon krass / Vielleicht Vielleicht / Schlagschatten

Nicht mein Fall: Weiße Wand

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