Donnerstag, 24. August 2017

Kenne deine Grenzen!

"Tocotronicore" schimpfte ich die Musik, die the Hirsch Effekt spielen, einst und zielte dabei auf ihre eigentümliche Mischung aus intellektuellen deutschsprachigen Texten und Posthardcore an, mit dem ich zu diesem Zeitpunkt nicht viel anfangen konnte. Heute muss ich zugeben, dass jene Bezeichnung doch ziemlich verkürzt daherkommt, kann man den Hannoveranern doch eine unglaubliche Kreativität in ihren Songs nicht absprechen. Ihre Verbindung aus lyrischer Postpunk-Poesie, Metalcore, Progressive-Versatzstücken und Avantgarde ist mehr oder weniger einzigartig in der hiesigen Musiklandschaft und in den fünf Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich die Band damit ein beachtliches Publikum geschaffen. Nichtsdestotrotz hielt sich meine Leidenschaft dafür immer in Grenzen und obwohl ich jedes Mal wieder neugierig auf ihren Output war, sprach mich dieser am Ende doch meist nicht so wirklich an. Viele Motive ihres Stils fand ich übermäßig pathetisch, eine klare Linie hatten ihre Stücke nie wirklich, Nils Wittrocks Texte waren mitunter ziemlich cringy und mit verrückten Taktwechseln und verklausulierten Komposita konnte man mich sowieso noch nie so richtig beeindrucken. Dass ich über ihr viertes Album Eskapist doch wieder in dieser Ausführlichkeit spreche, liegt primär am Wunsch eines einzelnen Lesers. Doch ich will auch nicht leugnen, dass die Platte vorher irgendwie auf meinem Radar war. Wie auch vor den letzten Alben des Trios war ich ziemlich neugierig, ob es vielleicht diesmal was mit uns werden würde und im Anbetracht der Tatsache, dass Eskapist die erste LP von the Hirsch Effekt ist, die nicht mehr Teil der Holon-Serie ist, versprach ich mir hier einiges an stilistischer Veränderung. Und in gewisser Weise hat die hier auch stattgefunden. Die neuen Stücke klingen insgesamt moderner, sind weniger rustikal produziert und eine ganze Ecke technischer gespielt. Von allen Platten der Hannoveraner dürfte diese mit Abstand die vertrakteste und gniedeligste sein. Gleichzeitig sind aber auch die Melodien größer geworden und Wittrock traut sich noch ein bisschen mehr Pathos in seinen schmierigen Bridges zu. Fans der Band wird das sicherlich freuen, denn die besten Sachen an ihrer Musik sind hier noch einmal wesentlich intensiver vertreten. Man muss aber auch zugeben, dass diese Intensivierung lediglich die logische Folge des Sounds von Holon:Agnosie ist und wenn man mich fragt, wird er hier ein wenig verschlimmbessert. Mehr denn je klingen the Hirsch Effekt wie eine der unsäglichen Emocore-Formationen, von denen sie sich aus gutem Grund immer distanziert haben und was Texte angeht, finde ich viele Sachen hier wesentlich überflüssiger als auf den Vorgängern. Wo mich die Band auf den letzten beiden Platten zwischenzeitlich auch immer wieder schwer begeisterte, finde ich die besten Elemente auf Eskapist höchstens günstig platziert oder deshalb gut, weil sie neu sind. Wenn Lifnej beispielsweise kurz in ein Stoner-Riff übergeht oder Aldebaran im Mittelteil sehr punkig wird. Auch der Neun-Minuten-Gigant Natans ist ziemlich beeindruckend und sorgt gleich am Anfang des Albums für ordentlich Bums. An anderen Stellen wiederum frage ich mich, was sich the Hirsch Effekt dabei eigentlich gedacht haben. Muss beispielsweise Inukshuk so tief in die Tears for Fears-Trickkiste greifen? Hätte man aus Tardigrada nicht mehr machen können? Und wie sinnlos ist bitte Nocturne? An einigen Stellen wirkt Eskapist darüber hinaus etwas platt und nicht so richtig zu Ende gedacht. Ein bisschen so, als wollte die Band alle ihre coolen Stilelemente hier unbedingt reinpacken wollen, obwohl sie gar nicht unbedingt passen. Was bei mir unterm Strich wieder zum gleichen Ergebnis führt wie bei bisher jeder Hisch Effekt-LP: Wir erleben hier eine echt fette, ambitionierte Gruppe, die über Genregrenzen hinaus denkt und sich einen echt geilen Stil zurecht montiert hat, aber in ihrem kreativen Überschwang auch gerne mal großen Blödsinn anstellt. Eskapist ist irgendwie gut, aber es hätte so viel besser sein können, wenn sich die Musiker ein bisschen beherrscht hätten. Ich weiß auch, dass viele Fans genau diese Unberechenbarkeit an Hirsch Effekt mögen, nur ich komme hier nach wie vor nicht so richtig ran. Auch wenn ich dem jetzt vielleicht näher bin als noch vor fünf Jahren. Um weiterhin neugierig zu bleiben, reicht es auf jeden Fall.





Persönliche Highlights: Xenophotopia / Natans / Berceuse / Aldebaran / Autio / Lysios

Nicht mein Fall: Nocturne / Inukshuk / Acharej

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