Sonntag, 28. Februar 2021

Aktualisierte Wachstumsprognosen

Julien Baker - Little Oblivions
JULIEN BAKER
Little Oblivions
Matador
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

[ indierockig | ambitioniert | düster ]

Was die kleine, aber unglaublich spannende Bubble lyrischer, emotional intensiver Indierock-Songwriter*innen aus Amerika angeht, die sich in den letzten drei bis fünf Jahren im Windschatten des Neunziger-Revivals herausgebildet hat, habe ich mich inzwischen einigermaßen zum Kenner und Liebhaber entwickelt. Viele Platten, die aus dieser stilistischen Nische kommen, habe ich in der Vergangenheit hier besprochen, die meisten davon mit sehr wohlwollendem Resultat. Und mein anfängliches Gespür, dass sich aus dieser Bubble heraus etwas tolles entwickeln würde, das mehr als nur eine kurze Phase sein würde, war ebenfalls grundlegend richtig. Nur habe ich mich rückblickend mehr oder weniger völlig damit verkalkuliert, wer aus dieser Bubble diejenigen sein würden, die diese Musik bekannt machen. Wo ich diesbezüglich anfangs vor allem auf den Output von Snail Mail, Frankie Cosmos und im weiteren Sinne Press Club setzte, gingen die großen Lorbeeren stattdessen immer an die, die ich zunächst nicht so sehr auf dem Schirm hatte. Im wesentlichen an die drei Künstlerinnen Soccer Mommy (ihr kommerzielles Debüt besprach ich erst mit einigen Monaten Verspätung), Phoebe Bridgers (Mein Artikel zu Punisher ist wenige Wochen alt und erschien, nachdem sie in den Best Ofs von 2020 alles abgeräumt hatte) und Julien Baker. Wobei mein Versäumnis in letzterem Falle besonders fatal ist. Denn bis zu diesem Artikel habe ich über sie noch nicht mehr verfasst als einen kurzen Eintrag in meiner alten Schnelldurchlauf-Rubrik, der noch dazu reichlich desinteressiert war. Dabei gilt ihr Katalog aus den letzten fünf Jahren unter den Musiknerds dieser Welt schon lange als echte Goldgrube. Ihr Debüt Sprained Ankle von 2015 wird vom Geheimtipp langsam zum echten Dauerbrenner, Turn Out the Lights erntete 2017 durchweg große Zustimmung von der Kritik und als sie ein Jahr später gemeinsam mit Phoebe Bridgers und Lucy Dacus die Supergroup Boygenius gründete, zementierte sich ihr exklusiver Status als Indiedarling endgültg. Stand 2021 ist sie also bereits an einem Punkt ihrer Karriere, an dem sie auf kritische Erfolge aufbauen kann und sich kreativ diversifiziert. Und Little Oblivions ist definitiv ein Album, dem man diese neue Größe anmerkt und das mich damit auch langsam wirklich überzeugt. Der Grund dafür, dass ich Bakers Output so lange ignorierte war ja nicht, dass ich etwas gegen sie persönlich hatte, sondern eher, dass ich ihre Songs lange Zeit etwas gewöhnlich fand. Und in dieser Hinsicht musste sie sich für mich schon noch irgendwie beweisen. Was sie mit diesen zwölf Tracks aber auf jeden Fall schafft. Vor allem dadurch, dass ihr gesamtes künstlerisches Konzept auf dieser LP den nächsten Schritt in Richtung Mainsteam geht und damit in ein Territorium, das Baker gut zu Gesicht steht. Eine minimalistische oder nonkonformistische Künstlerin war sie ja sowieso noch nie und eingängig konnte sie durchaus sein, weshalb der größere Sound, den sie hier erschafft, ihr wirklich hilft. Durch eine vielschichtigere Instrumentierung, ein paar clevere Tricks in der Produktion und ein überdurchschnittlich gutes Mastering gelingt es hier, viele vorherige Schwachstellen ihrer Ästhetik ansprechend zu verkitten und eine Platte zu machen, die auf unangestrengte Weise nach dem nächstgrößeren Goldfischteich klingt. Und das gute Songwriting im Kern bleibt ja trotzdem erhalten. Gerade lyrisch beeindruckt mich Baker mit ihren selbstmitleidigen Songs und düsteren Gedanken das erste Mal so richtig, wobeu besonders Zeilen wie "Say it's not so cut and dry / Oh, it isn't black and white / What if it's all black, baby? / All the time" im Opener Hardline auf jeden Fall anders finster sind. Ähnlich wie bei Kollegin Bridgers befindet sich dieses Album inhaltlich an einem sehr düsteren Ort, den es mit sehr fantasievollen Texten auskleidet, ohne die man so viel Trübsinn aber gar nicht vermuten würde. In diesem Fall ist der Eindruck sogar noch stärker, da Baker auf klanglicher Ebene viel bunter arbeitet und manchmal auch vorsichtig in Richtung Heartland Rock und Americana abdriftet. Ein unvereinbarer Gegensatz ist das aber trotzdem nicht, eher eine willkommene Überraschung. Und ehrlich gesagt fallen mir wenige Songwriter*innen von ihrem Schlag ein, bei denen das schon mal so reibungslos funktioniert hat. Einen Wachstumsschub wie ihn Julien Baker auf Little Oblivions vollzieht - inhaltlich wie klanglich - schaffen kaum Künstler*innen ihrer Zunft, ohne nachher gefällig, belanglos oder pretenziös zu klingen. Hier hingegen ist das Ergebnis stimmig, das Konzept glaubwürdig und hat obendrein einige der besten Songs dieser Frau am Start. Und es ist beeindruckend mit anzusehen, wie sie sich proportional zu ihrem Erfolg auch kreativ entwickelt. Mittlerweile seit über einer halben Dekade.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Hardline | Heatwave | Faith Healer | Relative Fiction | Bloodshot | Ringside | Favor | Highlight Reel

Nicht mein Fall
-

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