Samstag, 20. Februar 2021

You Got A Killer Scene There

Black Dresses - Forever in Your HeartBLACK DRESSES
Forever in Your Heart
Die-Ai-Wei
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ krachig | aufgekratzt | aggressiv | schräg ]

Eine Sache, die ich am Phänomen Hyperpop spätestens seit dem letzten Jahr echt cool finde, ist die Art und Weise, wie sich hier im einundzwanzigsten Jahrhundert etwas etabliert, das tatsächlich viele klassische Merkmale einer traditionellen Szene hat. Nach gut 20 Jahren, in denen viele musikbasierte Pop-Phänomene vorwiegend online stattfinden und subkulturelle Parameter sich verschieben, ist das schon einigermaßen selten geworden. Und obwohl auch bei Hyperpop natürlich viel im Internet ausgetragen wird und die Bubble in dieser Hinsicht keineswegs revisionistisch ist, besteht die Basis - zumindest noch - aus einer relativ festen Gruppierung echter Menschen, die gemeinsam in verschiedenen Konstellationen Songs schreiben. Am besten zu sehen ist das natürlich nach wie vor im britischen Post-PC Music-Camp, in dem Künstler*innen wie A.G. Cook, Charli XCX und Sophie (R.I.P.) schon vor Jahren musikalische Think Tanks formten, doch auch auf der anderen Seite des Atlantiks hat sich ein solches Konstrukt schon vor einiger Zeit herausgebildet. Wobei ich sagen würde, dass dessen Herz im Frühjahr 2021 vor allem in der Symbiose zweier Gruppen zu finden ist: 100 Gecs und Black Dresses. Erstere sind dabei sicher diejenigen, die mit 1000 Gecs vor zwei Jahren das bisher wichtigste Einzelwerk fabriziert haben, letztere in meinen Augen aber vielleicht noch wichtiger. Vordergründig als die Untergrund-Formation, die extrem wichtige Vorarbeit für Sound und Ästhetik des amerikanischen Hyperpop-Ablegers geleistet hat, der im Vergleich zu den Briten wesentlich experimenteller und dreckiger klingt. Aber auch als Duo, dessen beide Mitglieder mit zahlreichen anderen wichtigen Projekten zusammenhängen (unter anderem Anarchy99, Food House und Backxwash). Ganz zu schweigen vom großen Verdienst, die amerikanische Bubble zu einem subkulturellen Safespace für nonbinäre Künstler*innen zu machen. Sollte Hyperpop also irgendwann mal in den Geschichtsbüchern landen, wären Black Dresses an der Stelle die Stooges, wo 100 Gecs die Ramones sind. Und genug beliebte Platten haben sie inzwischen auch schon veröffentlicht. Love and Affection for Stupid Little Bitches kursierte 2019 noch eher in erlauchten Expert*innenkreisen, der Nachfolger Peaceful as Hell vom letzten Jahr hatte dann schon wesentlich mehr Crossover-Potenzial und war ein ziemlicher Hit in der Szene. Doch obwohl kurze Zeit später eigentlich die Auflösung des Projektes angekündigt wurde, stehen die beiden nun ein Jahr später mit einer neuen Platte da, was mich sehr glücklich macht. Denn Trennungsgrund der beiden war nach eigenen Angaben, dass die Band mit wachsendem Erfolg immer wieder Zielscheibe transphobischer Pöbeleien wurden, was Forever in Your Heart nachträglich ein bisschen zum empowernden "Jetzt erst recht"-Statement macht. Und musikalisch cool ist es obendrein. Nachdem ich mich mit Peaceful as Hell zuletzt erst eine Weile eingrooven musste, bin ich mittlerweile langsam vertraut genug mit der Ästhetik des amerikanischen Hyperpop, dass ich das hier dafür schätzen kann, was es ist. Heißt im Klartext: aufgekratzter, lärmiger und bohrender Industrial-Pop mit Noise-Koeffiziente, leichtem Metal-Einschlag und reichlich Internethumor. Forever in Your Heart ist dabei etwas weniger klar konzeptuell als sein Vorgänger, doch führen Black Dresses auch hier die inhaltliche Idee von Sehnsucht und positiver Attitüde weiter, die ich schon daran sehr mochte. Denn obwohl durch die gequälte und sehr unbehagliche Musik eine große Schere zwischen Form und Inhalt entsteht, ist die Botschaft des ganzen doch nach wie vor stark. Abgesehen davon, dass diese Kontrastierung sehr wahrscheinlich Absicht ist. Einflusstechnisch nimmt die Platte recht vieles mit, von Marylin Manson (igitt!) über Trent Reznor (cool) bishin zu M.I.A. (falls diese mal eine Metal-Phase gehabt hätte), außerdem natürlich die Kernelemente des amerikanischen Hyperpop. Dabei habe ich hier das erste Mal das Gefühl, dass über einen typischen Szene-Sound hinausgedacht wird und die Black Dresses ästhetisch weiterdenken. Besonders cool finde ich an vielen Stellen die sehr skizzenhaften Gesangstakes, die oftmals aufgenommen sind wie einfache Sprachmemos und mit ihrer Anti-Perfektion herrlich in dieses klangliche Bild passen. Trotzdem gibt es an anderen Stellen großartige Hooks und/oder Melodiepassagen, die nach einem durchdachten und bewussten Projekt klingen. Mit Can't Keep It Together ist hier sogar ein verhältnismäßig hymnischer Closer am Start, der die LP zum Schluss perfekt abrundet. Und obwohl es auf den fast 60 Minuten Musik so manchen Schönheitsfehler gibt, der noch Luft nach oben lässt (die zweite Hälfte von Understanding ist ziemlich nervig und We'll Figure It Out auf unangenehme Weise repetetiv), ist es der Spirit der Platte, der mich sehr abholt. Nachdem es bei mir lange genug gedauert hat, bis ich dieses ganze Hyperpop-Konstrukt überhaupt richtig verstanden hatte, ist es jetzt großartig zu hören, hier die verschiedenen Ausprägungen zu sehen und Entwicklungen zu beobachten. Und Forever in Your Heart fühlt sich für mich an wie ein Glied, das in dieser Kette wichtig sein könnte. Zum einen der Symbolik wegen, dass die Band mit diesem Triumph aus ihrer "Auflösung" zurückkehrt, zum anderen weil es extrem gut ist und viele neue Ideen hat. Wenn wir tatsächlich gerade in einer Phase sind, in der sowas wie ein kleiner Kanon für die stilistische Masse namens Hyperpop entsteht, dann sind die Black Dresses spätestens mit diesem Album ein Teil davon. Und klar ist es für solche Beurteilungen eigentlich viel zu früh, aber so würde ich es zumindest gerne sehen. Denn wann hat man schon mal die Gelegenheit, einer Szene beim entstehen zuzuschauen?

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
PEACESIGN!!!!!!!!!!!!!!!!! | Heaven | Silver Bells | Waiting42moro | Gone in An Instant | Perfect Teeth | Zero Ultra | Mistake | (Can't) Keep It Together

Nicht mein Fall
We'll Figure It Out

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