Sonntag, 7. Februar 2021

Akustische Vertiefung

Hayley Williams - Flowers for Vases / DescansosHAYLEY WILLIAMS
Flowers for Vases / Descansos
Atlantic Records
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ leicht | indiefolkig | detailliert ]

Wäre ich bis zum Ende des letzten Jahres nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, begeistert von Hayley Williams zu sein, hätte ich mir vermutlich eher die Frage gestellt, wo die Reise bei ihr eigentlich hingeht. Und hätte ich mal ein bisschen aufgepasst, wären mir schon früher die sehr gemischten Signale aufgefallen, die sie seit einer ganzen Weile sendet. Wenn Petals for Armor, ihr überraschend tolles Solodebüt vom letzten Jahr, eine Sache war, dann überaus kreativ und vielseitig. In ihrer neu gefundenen Narrenfreiheit probierte die Songwriterin hier vom ersten Moment an mit ziemlich unterschiedlichen Ansätzen, Stilen und Ästhetiken herum, die alle auf ihre eigene Weise cool waren. Mal war sie dabei ein voguender, glamouröser Madonna-Verschnitt, mal eine einfühlsame Indie-Songwriterin, mal die hippe Indiepop-Individualistin und stellenweise sogar in Richtung Radiohead oder Björk unterwegs. Das große Kunststück auf Petals for Armor war dabei, wie stimmig Williams diese verschiedenen Elemente ihres Songwritings zusammenfasste und daraus einen Charakter erschuf. Doch provozierte diese wilde Mixtur auch ein bisschen die Frage, in welche Richtung ihre Karriere in Zukunft steuern würde. Würde sie wie Carly Rae Jepsen zum intelligenten Pop abbiegen? Würde sie eine ernsthafte Songwriterin werden und eher lyrisch zu punkten versuchen? Oder würde sie weiter versuchen, diesen künstlerischen Schwebezustand aufrecht zu erhalten und alles gleichzeitig zu machen? Ich persönlich hatte auf letzteres getippt. Und um ehrlich zu sein glaube ich auch nicht, dass das letzte Wort in dieser Sache schon gesprochen ist, nur weil sie mit Flowers for Vases / Descansos jetzt ein Countryfolk-Album macht. Viel eher vermute ich, dass sie ab jetzt beliebig zwischen ihren verschiedenen Phänotypen umherspringt, einfach weil sie es kann. Diese Art und Weise des Songwritings ist im Moment ganz einfach der natürlichste Weg, der sich nach dem Debüt offenbart. Und wie so oft ist auch diesmal Corona schuld. Nachdem die Tour zu Petals for Armor 2020 ins Wasser fiel, spielte Williams ersatzweise viele Streaming- und Radiosessions, oft ohne Band und nur mit akustischer Begleitung. Was sich über kurz oder lang wahrscheinlich auch auf die Stücke auswirkte, die sie in dieser Zeit schrieb. Denn obwohl Flowers for Vases keinesfalls ein reines Akustikalbum geworden ist, steht im Kern der Platte doch immer die Sängerin und ihre Gitarre, respektive ihr Klavier. Die so entstandenen Stücke sind sehr viel intimer, ruhiger und kleiner gehalten und versuchen diesmal in keinem Moment, Hits zu sein. Eine Referenz, die sich in Bezug auf diese LP ganz klar aufzwingt ist die der letzten beiden Alben von Taylor Swift, die eine ähnliche Größe im Minimalistischen fanden. Zudem zielt auch Flowers for Vases auf einen vorsichtigen Americana-Touch ab, vermählt intimes Songwriting mit aufwändiger Hifi-Produktion und braucht ein bisschen, um seine volle Qualität wirklich zu zeigen. Als ich die Platte zum ersten Mal mit der Erwartung eines eingängigen Petals for Armor-Nachfolgers hörte, war ich deswegen zugegebenermaßen eher enttäuscht. Doch hat sich seitdem die schlichte Schönheit dieser Songs mehr und mehr entfaltet. Vor allem weil Williams in den Details hier trotzdem sehr kreativ vorgeht: Da gibt es Momente wie das Instrumentale Interlude Descansos oder das Outro von Asystole, die eine sehr schicke Atmosphärik aufbauen und den akustikgitarrigen Vibe ein bisschen veredeln, Songs mit tollen Hooks wie Trigger oder My Limb, herrliche Balladen wie Inordinary und mit Just A Lover einen überraschend rockigen Closer, der zum Ende doch nochmal ziemlich auf die Kacke haut. Auch mag ich die Art, wie in vielen Songs kleine Outtakes eingeschnipselt werden, und ganz besonders den am Anfang von HYD. Auf diese Weise balanciert die Platte immer irgendwie zwischen groß angelegter Mainstream-Produktion und schüchternem Schlafzimmerpop-Album und hat jene Form von Ambivalenz, die ich schon an Williams' Debüt so mochte. Generell muss ich sagen, dass Flowers for Vases strukturell gar nicht so viel anders macht als sein Vorgänger. Sicher, es spart sich die lauten und extravaganten Momente, die darauf sehr auffällig waren, doch sind viele Techniken dabei sehr ähnlich. Was auch bedeutet, dass es auf die gleiche Weise überzeugend ist. Es braucht dazu vielleicht ein bisschen länger, doch lohnt sich die Geduld. Und wenn ich an dieser Stelle mal etwas verschwörerisch sein darf: Wie geil wäre es bitte, wenn in der zweiten Hälfte von 2021 noch eine weitere Hayley-Williams-LP erscheint, nur diesmal ausschließlich mit New Wave- und Dancepop-Krachern? Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios ist klein, doch will ich damit vor allem sagen, dass diese Künstlerin es drauf hätte, beides sehr gut zu machen und ihre Vielseitigkeit zu vertiefen. Beweise dafür haben wir in Form von Flowers for Vases jetzt immerhin schon mal einen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
My Limb | Asystole | Trigger | Over Those Hills | Wait On | Inordinary | HYD | Find Me Here | Descansos | Just A Lover

Nicht mein Fall
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