Freitag, 19. Februar 2021

Ein Hauch von Geschichte

Gal Costa - Nenhuma dorGAL COSTA
Nenhuma Dor
Biscoito Fino
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ pittoresk | nostalgisch | historisch ] 

Es ist für mich immer eine ziemliche Lektion in Demut, wenn ich im Rahmen dieses Formats über Künstler*innen spreche, deren musikalische Aktivitäten inzwischen 50 oder mehr Jahre umspannen und die Kataloge beinhalten, die nicht nur unzählige Trends und Phasen, sondern vor allem auch persönliche Umbrüche verkraftet haben. Und klar denke auch ich dabei in erster Linie an die Rolling Stones, Hawkwind, Neil Young oder Paul McCartney, manchmal stößt man auf solche eisernen Acts aber auch eher zufällig, so wie ich letzte Woche bei Gal Costa und ihrem jünsten Album Nenhuma Dor. Wobei es mich in diesem Fall tatsächlich ein bisschen wunderte, dass diese Frau überhaupt noch Musik macht. Mit 75 Jahren ist sie ein echtes Urgestein der brasilianischen Popmusik, das ich für meinen Teil nur aufgrund eines einzigen Albums kenne, das selbst schon 52 Lenze auf dem Buckel hat. Besagte LP (ihre erste selbstbetitelte von 1969) ist für mich persönlich aber auch ein absolutes persönliches Highlight und nach aktuellem Stand meine Lieblingsplatte aus dieser Saison, weshalb die Person Gal Costa bei mir grundsätzlich auf Interesse stößt. Vor allem dann, wenn sie in diesem Alter nach wie vor so aktiv und kreativ arbeitet. Und Nenhuma Dor ist in diesem Sinne auch nicht einfach nur irgendein Album. Zwischenzeitlich mal unter dem Titel Gal 75 gehandelt, ist es für die Karriere der Künstlerin eine Art Geburtstags-LP, die einerseits ihr persönliches Jubiläum feiert, andererseits die 55 Jahre, die ihre Karriere nun schon dauert. Folglich ist das vorliegende Material auch vornehmlich nostalgischer Natur und sehr mit Erinnerungen verwoben. Alle zehn Tracks auf diesem Projekt sind neuinterpretierte Aufnahmen diverser alter Songs, die jeweils in Kollaboration mit einer bekannten Figur der brasilianischen Popmusik entstand. Zugegeben, die meisten dieser Gäste sind auch für mich böhmische Dörfer, doch beflisseneren MPB- und Bossa Nova-Enjoyer*innen könnten Leute wie Seu Jorge, Rodrigo Amarante oder Zeca Veloso vielleicht ein Begriff sein. Und viel wichtiger ist sowieso das, was dieses Album damit erschafft. Denn wenn so viele, teils recht bekannte Menschen zusammenkommen um Songs aus über einem halbem Jahrhundert zu performen, die für ihr eigenes Schaffen sehr einflussreich waren, dann wird hier zwangsläufig auch eine Geschichte der brasilianischen Popmusik an sich erzählt. Sicher, Gal Costa war nicht durchweg eine prägende Figur und ist nicht der Anfang und das Ende eines gigantischen Kosmos an Subgenres und Bewegungen, doch ist sie eine Chronistin, die vieles miterlebt hat. Es ist also vielleicht ein bisschen vergleichbar mit dem Unplugged-Konzert von Udo Lindenberg, in dem auch die halbe deutsche Popmusik dabei war und weihräucherte, obwohl dieser Typ lediglich ein Teil der ganzen Geschichte ist. Und im Gegensatz zu Lindenberg ist das bei Gal Costa sogar noch richtig geschmackvoll. Zwar sind die psychedelischen Vibes ihrer frühen Sachen definitiv ausradiert und vieles ist sehr brav und kammerpoppig geworden, kompositorisch halten viele Songs aber noch immer ordentlich vor. Und als Sängerin ist Costa mit 75 noch immer erstaunlich nonchalant und sanft. Klanglich ist dabei vieles sehr MPB-typisch, aber eher im Sinne eines modernen Klassizismus als tatsächlicher Vintage-Attitüde. Ich persönlich war dabei natürlich am meisten neugierig auf die Neubearbeitung von Baby, des einzigen Stückes vom alten Lieblingsalbum, die leider ein bisschen nach akustischer Radioperformance klingt, aber auch keinesfalls mies. Wobei mein emotionalster Moment hier tatsächlich ganz am Ende kommt, wenn Costa die Platte mit dem titelgebenden Nenhuma Dor beendet. Denn nicht nur bedeutet dieser Name übersetzt "kein Schmerz", auch stammt der Song von ihrem Debüt, das sie gemeinsam mit Caetano Veloso aufnahm. Dessen Sohn Zeca übernimmt hier nun dessen Featurepart und schließt damit einen Kreis, der über ein halbes Jahrhundert alt ist. Was spätestens an dieser Stelle dazu führt, dass ich irgendeine Art von Emotionalität und Nostalgie für den Output dieser Frau und für brasilianische Popmusik an sich empfinde, obwohl ich damit keine echte Vergangenheit habe. Wo ich das in erster Linie mysteriös finde, spricht es auf jeden Fall auch dafür, was dieses Album kommuniziert. Selbst jemand wie ich, der nicht die Historie dieser Bewegungen kennt, der nicht die Sprache spricht, der kaum Leute aus der Gästeliste kennt und nur eine LP der Hauptakteurin, kann hier zumindest ein bisschen die Geschichte schnuppern, die sich in diesem Projekt verbirgt. Und das ist unglaublich faszinierend.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Avarandado | Só Louco | Coração Vagabundo | Negro Amor | Nenhuma Dor

Nicht mein Fall
Paula E Bebeto

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