Freitag, 21. September 2018

Votan Wahnwitz





















Es ist eine wunderbare Sache, wenn eine Band, die seit fast einem halben Jahrhundert existiert, noch für Überraschungen gut ist. Vor allem eine, von der man eine solche in dieser Form erstmal nicht erwartet. Die Londoner Spacerock-Formation Hawkwind, gegründet 1970, Schöpferfigur für ganze Genres und einst Rock'n'Roll-Praktikumsplatz für the legend himself Lemmy Kilmister, ist keine solche Gruppe. Über ihre gesamte Karriere hinweg haben sie einen stabilen Output bewiesen, in diversen Aufstellungen gute bis sehr gute Musik gemacht und vor allem als Live-Act ihre Sporen verdient, als stilistische Chamäleons oder unlabelbare Hakenschläger waren sie jedoch nie bekannt. Ihre Masche war stets solider Blues- und Hardrock, eventuell mit starken europäischen Folk- oder mitunter New Wave-Einschlägen, darüber hinaus ging das ganze aber nie. Dass sich das ausgerechnet 2018 nochmal ändern soll, ist daher nicht weniger als eine kleine Sensation. Wobei man relativieren muss: Schon in der Vergangenheit haben Hawkwind Platten mit Orchester-Begleitung aufgenommen, das theoretische Konzept von Road to Utopia ist also nicht komplett neu. Nur dass die Briten dabei bisher niemals so radikal und so selbstironisch vorgingen wie auf dieser LP. Und dabei handelt es sich bei keinem der Songs hier um neues Material. Viele der Stücke stammen aus ihrem eher unbekannten Achtziger-Output, Fan-Favoriten sind bis auf das von Lemmy geschriebene the Watcher eigentlich nicht vertreten, dafür gibt es einen exlusiven Gastauftritt von Eric Clapton. Das Erlebnis hierbei ist aber letztendlich die Art und Weise, wie die Songs für dieses Album neu bearbeitet wurden. Denn von den Begriffen Spacerock und eigentlich generell Rock trennen sich Hawkwind hier so gut wie komplett. Das konservativste sind noch Tracks wie the Watcher, die auf traditionellen Blues bauen, der Rest der Platte wird zum Spielplatz für eine extrem waghalsige Bombast-Orchestrierung, die im Pop-Bereich definitiv ihresgleichen sucht. Das hier hat nichts zu tun mit Künstler*innen, die sich für ein Unplugged-Konzert ihre Songs mit ein paar Streichern backen lassen oder mit so furchtbaren Sachen wie Metallicas S&M-Album. Hier werden im Minutentakt ganze kompositorische Strukturen über den Haufen geworfen und in meinen Augen nicht selten wesentlich unterhaltsamer wieder zusammengesetzt. Gleich der Opener Quark, Strangeness & Charm macht in dieser Hinsicht keine halben Sachen, indem er den Psychrock-Track kurzerhand zur Mariachi-Nummer umgestaltet, komplett mit dicken Bläsern und sonstigem Schnickschnack. Ähnlich verquere Sachen passieren in Songs wie Psychic Power oder Flying Doctor, die sich Big Band-Sounds annehmen und dem seltsam esoterischen Hymn to the Sun. Doch wer meint, Road to Utopia wäre einfach nur albern, der hat weit gefehlt. Mit We Took the Wrong Step Years Ago und the Age of Micro Man gelingen Hawkwind zwei Neuinterpretationen von Stücken, die noch immer sehr aktuellen Charakter haben und die entsprechend ernsthaft vertont wurden. Ersteres als eine dick mit Streichern belegte Weltuntergangs-Ballade, letzteres als apokalyptischer Prog-Langtrack im Stil des Siebziger-David Bowie. Aber egal ob nun als ironische Blödelei oder mit Ansage, Road to Utopia ist ein faszinierendes Stück Musik. Zum einen, weil es krass ist, dass so etwas überhaupt existiert, zum anderen, weil es auch noch so unverschämt gut ist. Ich hatte diesen Artikel als kleinen Exkurs über ein drolliges Rerecording-Projekt einer klassischen Band geplant, doch was herausgekommen ist, ist ein Post über einen der spannendsten Longplayer dieses Jahres. Und dass dieser ausgerechnet von Hawkwind kommt, macht die Sache nochmal absurder. Ich glaube, man kann sich wirklich ein bisschen glücklich schätzen, dass man von dieser musikalischen Anomalie Zeuge sein durfte. What A Time to Be Alive!






Persönliche Highlights: the Watcher / We Took the Wrong Step Years Ago / Flying Doctor / Psychic Power / Hymn to the Sun / the Age of the Micro Man / Intro the Night / Down Through the Night

Nicht mein Fall: -


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