Samstag, 8. September 2018

Jäger & Sammler





















Als ich vor kurzem einige wichtige Grundlagen über Anna Calvi für diesen Artikel recherchierte, von der ich selber bis dahin ziemlich wenig wusste, fiel mit eine seltsame Dualität auf, die die Karriere dieser Künstlerin sehr exklusiv mit sich bringt. Denn ob man sie kennt oder nicht, kommt bei ihr sehr darauf an, woher man selbst kommt. Geht es nach Kritiker*innen und Presse, ist die Britin nämlich schon lange ein Superstar. Jede einzelne ihrer bisher drei Alben wurde in der Berichterstattung einhellig in den Himmel gepriesen, sie gewinnt darüber hinaus gefühlt jedes Jahr den renommierten Mercury Prize und der große Brian Eno höchstselbst bezeichnete sie mal als "the best thing since Patti Smith". Dass sie so eine große Nummer ist, weiß außerhalb dieses erlauchten Kreises von Bewundernden allerdings irgendwie niemand und auch ich selbst war davon bisher relativ unbehelligt. Für mich war Anna Calvi eine Sängerin, deren Debüt von 2011 als gescheiterte Newcomer-Hoffnung endete und seitdem mehr oder weniger unter dem Radar flog. Und dass sich das genau jetzt ändert, sehe ich eigentlich auch nur als Indiz dafür, dass ich inzwischen mehr pretenziöser Schreiberling geworden bin als echter Musikfan. Als dieser kann ich euch aber versichern: Das neue Album von Anna Calvi ist großartig! Diese Frau zeigt sich auf Hunter definitiv als eine der wirklich beachtenswerten Kräfte des modernen Artpop, und das meine ich tatsächlich kein bisschen ironisch. Diese Platte ist in dermaßen vielen Hinsichten unglaublich intelligent gemacht und gerade für Konzept-Nerds wie mich ein gefundenes Fressen. Denn was Calvi hier - vor allem auf lyrischer Seite - unternimmt, ist nicht weniger als ein kleiner Exorzismus. Ein Großteil der zehn Tracks hier setzen sich auf einer sehr persönlichen Ebene mit dem Thema Geschlechterrollen, eigene sexueller Identität, Männlickeit und Weiblichkeit auseinander, wobei ihre Schöpferin den Arbeitseifer einer Pathologin anlegt. Gleich im Opener As A Man spricht sie die Veränderung der Körperlichkeit an, will Maskulinität verstehen und erleben. Der nachfolgende Titelsong packt auf diese Innenansicht noch mal einen drauf. Das Narrativ geht dabei (in meinen Augen) jedoch weniger in Richtung eines queeren Selbstverständnisses, welches einige in diesem Album sehen, sondern ist eher ein Forscherdrang und ein Aufwerfen von Fragen. Und am Ende würde ich sogar sagen, dass die Botschaft hier eine ziemlich feministisch geprägte ist. Zumindest ist das alles, was ich als heterosexueller Mann dazu sagen kann. Fakt ist aber, dass die Erzählweise, in der das alles stattfindet, eine unglaublich spannende ist und Calvi dabei nicht selten auch sehr intim wird. Was übrigens nicht bedeutet, dass die kraftvolle musikalische Ausarbeitung einen Kontrast dazu darstellt. Überall hier finden sich sehr rockige Momente, Streicher-Passagen und dicke Synthesizer, die aber auch perfekt zu der starken, trockenen und ausdauernden Performance der Sängerin passen. Es ist bezeichnend, dass sie hier teilweise auf klischeehaft maskuline Ausdrucksformen zurückgreift, aber auf der anderen Seite auch stimmlich andere Akzente setzt. Und das finde ich am Ende das tolle und besondere an dieser LP: Überall, in jedem kleinen Detail, finden sich Elemente, die das Konzept dieses Albums irgendwie fortsetzen, von den auf den Tracks verwendeten Instrumenten bishin zum androgynen Coverfoto. Man merkt, dass hinter dieser Platte viel Kopfarbeit steckt, die in den eigentlichen Songs aber zu keinem Zeitpunkt die Überhand gewinnt. Hunter ist ein Projekt, das zum Nachdenken auffordert, aber nicht überfordert, was es zu einem der sorgfältigsten in diesem Jahr macht. Der Eindruck, den Anna Calvi hier auf mich gemacht hat, muss definitiv noch Sacken, aber allein die Tatsache, dass mich das ganze so lange und intensiv beschäftigt, sollte zeigen, wie gut hier gearbeitet wurde. Und so viel kann ich versprechen: Diese Platte war heute ganz bestimmt nicht das letzte Mal Thema bei CWTE.







Persönliche Highlights: Hunter / Don't Beat the Girl Out of My Boy / Indies or Paradise / Swimming Pool / Alpha / Chain / Wish / Away

Nicht mein Fall: -

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