Samstag, 14. November 2020

Freigespielt

Kadavar - The Isolation Tapes 


[ psychedelisch | fließend | episch ]

 Mal Hand aufs Herz: Es ist ja schon schön, dass sich dieses Jahr viele Künstler*innen aufgrund der andauernden Tourbeschränkungen dafür entscheiden, mit ein wenig zusätzlichem Studiomaterial sowohl die eigenen Fans zu vertrösten als auch die eigene Haushaltskasse etwas aufzufüllen und es freut mich auch, dass viele davon - selbst große Popstars - dies in Form von experimentellem Content tun, der ihren sonstigen Output für einen Moment umgeht. Doch wäre ich unaufrichtig, wenn ich behaupten würde, dass irgendeines dieser Quarantäne-Projekte, die ich 2020 gehört habe, in meinen Augen mehr war als ein spielerischer Exkurs zum effektiven Zeitvertreib. Wenn man in 20 Jahren über die größten musikalischen Errungenschaften der Saison spricht, werden es wohl eher nicht Platten wie How I'm Feeling Now, Folklore oder High Off Life sein, die dabei im Fokus stehen, da sie in den meisten Fällen einfach zu wenig künstlerische Aussagekraft haben, um als tatsächliche Zeitdokumente durchzugehen. Wenn diese noch kommen sollten, dann wahrscheinlich erst ab dem nächsten Jahr, wenn auch die Projekte erscheinen, für die mehr als ein paar Monate Zeit investiert wurden und die nicht nur dafür gemacht sind, um ein paar Streams abzugreifen. Auch wenn ich durchaus anerkennen kann, wenn eine Band die tourlosen Monate nutzt, um sich künstlerisch neu zu erfinden. Und bei kaum jemandem sehe ich das gerade so gerne wie bei Kadavar aus Berlin, einer Gruppe, die ich schon lange für wesentlich cooler und kreativer halte als die Musik, die es in den letzten Jahren von ihnen gab. Wer sie bereits kennt, kennt sie dabei höchstwahrscheinlich von ihrem selbstbetitelten ersten Album, das sie 2012 in der kleinen Hype-Phase, die doomiger Psychrock und Protometal aus Nord- und Mitteleuropa hatte, für einen Moment zu einer Band von globaler Bedeutung machte. Diese 15 Minuten Ruhm resultierten in einem exklusiven Deal bei Nuclear Blast, der für Kadavar wie für viele andere Acts den Weg in die Mittelmäßigkeit bedeutete. Was zwischen 2013 und 2019 von ihnen kam, hatte zwar immer einen sehr coolen Retro-Anstrich (vor allem was die schillernden Seventies-Outfits von Drummer Christoph "Tiger" Bartelt anging) und war extrem authenthisch und detailverliebt, künstlerisch aber doch sehr auswechselbar. Es brauchte anscheinend erst das Ende ihres Plattenvertrags und eine globale Pandemie, um diesen Knoten zu lösen, denn schaut man sich diese neue LP an, klingen Kadavar tatsächlich wie eine komplett andere Band. The Isolation Tapes ist, wie der Name schon sagt, im weitesten Sinne eine Jam-Platte, die in Sessions während der Toursperre entstand. Und obwohl das bedeutet, dass der klangliche Fokus hier noch immer sehr psychedelisch-siebzigerig ist, bedeutet es auch, dass die Berliner hier wesentlich besser entschlackt klingen. Statt rumpeligen Pentagram- und Sabbath-Grooves dominiert hier ein sehr an Pink Floyd und Yes erinnernder, leichtfüßiger Kraut- und Prog-Verschnitt, der sich auch stärker auf analoge Synthesizer und flächige Motive stützt. So gut wie alles ist dabei ein Teig, aus dem einzelne Songs nur als klangliche Spitzen hervortreten und der mit seiner kompositorischen Zweiteilung (auf der A-Seite eine fünfteilige Prog-Suite, auf der B-Seite ein poetisches Thinkpiece über Corona) mal wieder optimal auf ein Vinyl-Release zugeschnitten ist. Ein wirklich besseres Album ist the Isolation Tapes dabei nicht, dazu ist die Band hier noch zu unwirsch und die Lyrics zu platt. Doch freut es mich sehr zu hören, wie unglaublich kreativ sie hier klingen und tatsächlich mal neue Dinge probieren. Dass Kadavar diese Kreativität in sich haben, davon war ich lange überzeugt, da sie sich in kleinen hellen Momenten auf ihren alten Alben zeigte. Doch habe ich hier erstmals das Gefühl, das diese Energie wirklich aus ihnen herausbricht und die Band wieder Spaß an ihrer eigenen Musik hat. Und das ist auch bei einem okayen Album auf jeden Fall eine Basis, die Hoffnung macht. Denn dass Kadavar eine Zukunft haben, hoffe ich nun wirklich wieder. Alles andere wäre nämlich Verschwendung, und davon hatten wir bei ihnen in den letzten acht Jahren schon genug.


Hat was von
Pink Floyd
Wish You Were Here

Okta Logue
Ballads of A Burden

Persönliche Höhepunkte
II - I Fly Among the Stars | IV - (I Won't Leave You) Rosi | V - the World is Standing Still | Black Spring Rising

Nicht mein Fall
Peculiareality (!) | the Flat Earth Theory

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