Mittwoch, 18. November 2020

Cool im Sinne von kalt

Actress - Karma & Desire 


[ unterkühlt | relaxt | elektronisch ]

Hinsichtlich der Parameter, die ich an elektronischer Musik gemeinhin mag, war Actress schon lange ein Künstler, den ich theoretisch hätte gut finden müssen. Seitdem ich seine Musik vor etwa sechs Jahren zum ersten Mal aufschnappte, war sein Ansatz einer, den ich von der Idee her irgendwie mochte. Die dekonstruierten Elemente von House, Techno und Minimal, seine abstrakte Kompositionsweise, der kohärente Sound und ein immenses Geschick für gute Postproduktion waren Sachen, die ich an artverwandten Kolleg*innen wie Andy Stott, James Ferraro oder Autechre (bisweilen) eigentlich schätzte, die mir bei ihm nur immer etwas in den falschen Hals kamen. Sowohl Ghettoville von 2014 als auch AZD von 2017 waren Platten mit Potenzial, bei denen in meinen Augen aber immer auch irgendetwas fehlte oder die mir zu chaotisch waren. Mit Freude kann ich allerdings berichten, dass vor einigen Wochen nun die LP erschienen ist, die diesen Knoten für mich löst und endlich das offenbart, was ich in seinen Songs schon immer gesehen habe. Dabei ist Karma & Desire in vielen Punkten mal wieder völliges Neuland für den Londoner. Die grundlegenden Elemente von verhackstücktem House und Minimal bleiben hier zwar erhalten, doch ist das Ergebnis wesentlich weniger verglitcht und avantgardistisch, sondern eher verhalten und ambient. Zu großen Teilen würde ich mich gar dazu hinreißen lassen, das hier als Downtempo-Album zu bezeichnen, wenngleich nicht auf eine groovig-loungige Art und Weise, eher chillig im Sinne von unterkühlt. Klanglich nimmt Karma & Desire viele Ästhetiken von alternativem R'n'B, Vaporwave und Artpop auf, sowohl kompositorisch als auch in der Produktion. Immer wieder gibt es hier Spuren, die ein bisschen verrauscht und pappig sind, zwischen die scharfkantigen Muster mischen sich immer wieder Klänge mit dicker Patina und vor allem die vereinzelten Gesangsspuren sind fast immer nachträglich verfremdet. Vom Sound her erinnert mich dabei vieles an die Mitte-Zwotausendzehner-Phase von James Ferraro, die von solcherlei urbanen, kühlen und postmodernen Sphären geprägt war, Actress bringt diese allerdings in einen wesentlich stärker Ambient-geprägten Kontext. Auf immerhin 17 Songs in 68 Minuten variiert er dabei zwischen klaustrophobischem House-Nummern wie Angels Pharmacy und Loveless und entrückten Kunststücken wie Reverend oder Many Seas, Many Rivers. Ausnahmslos erhält sich dabei aber jene fröstelnde Atmosphäre, die nach urbaner Anomymität, seelenlosen Orten und traurigen Menschen klingt. Wie die Platten von Ferraro damals ist die größte Qualität von Karma & Desire, dass es klingt wie ein Soundtrack zu irgendetwas, dessen Sprunghaftigkeit auch irgendwie Teil seines Charakters ist. Eine Sammlung von Vignetten, die weniger durch einen gemeinsamen klanglichen Ansatz geeint werden, sondern durch eine Emotionalität, die sie verbindet. Kann aber auch sein, dass dieser Eindruck völlig subjektiv ist. Fakt ist, dass dieses hier die erste LP von Actress ist, die ich wirklich als Gesamtheit großartig finde und nicht nur theoretisch feiern kann. Was hoffentlich kein Einzelfall bleibt, denn dass dieser Typ sehr talentiert ist, davon bin ich schon lange überzeugt.



Hat was von
Andy Stott
Too Many Voices

James Ferraro
Skid Row

Persönliche Höhepunkte
Angels Pharmacy | Remembrance | Reverend | Leaves Against the Sky | Save | XRAY | Public Life | Fret | Loose | Turin | Diamond X

Nicht mein Fall
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