Dienstag, 24. November 2020

In der Kirche des Ra

Sun Ra Arkestra - Swirling 

 
[ experimentell | bunt | klassisch ]

 Man muss schon ein besonderer Musiker gewesen sein, wenn man seit über ein Vierteljahrhundert tot ist, es aber trotzdem noch die Band gibt, deren Leader man zu Lebzeiten war und diese sich noch dazu nach 20 Jahren wiederfindet, um noch mal ganz offiziell ein Album zu veröffentlichen. Und ja, Sun Ra ist definitiv ein Musiker, dem als genialer Jazz-Visionär, politischer Vordenker des Afrofuturismus und legendärer Superfreak so ein Vermächtnis gebührt. Nicht nur, weil dieses pophistorisch eine solche Tragweite hat, auch weil so ziemlich alles an Swirling so herrlich absurd ist wie es der Künstler selbst seinerzeit war. Eine dreizehnköpfige Formation großartiger Jazzvirtuosi*innen unter Leitung des fast hundertjährigen Marshall Allen, von denen man bisher eigentlich dachte, sie wäre seit den späten Neunzigern nicht mehr als die Tour-Truppe, die die kosmische Botschaft ihres Namensgebers auf den Bühnen der Welt weiterträgt. Auf einmal machen genau die aber ein neues Album, noch dazu nach 21 Jahren ohne neue Aufnahmen. Und das ist dann auch noch eines der besten, das diese Saison in der gesamten Jazz-Landschaft erschienen ist. Es ist alles völlig verrückt. Ich kann dabei von Glück reden, dass ich die klangliche Welt von Sun Ra ohnehin gerade für mich entdecke, sonst hätte ich das hier höchstwahrscheinlich unter Ferner Liefen abgeheftet. Denn ohne die eben benannten Hintergrundinfos ist das hier keine Sache, die in erster Instanz besonders attraktiv wirkt. Auf den imposanten 93 Minuten, die das Arkestra hier füllt, befindet sich zum überwiegenden Teil Material, das vom Meister persönlich bereits vor fünfzig oder mehr Jahren intoniert oder zumindest geschrieben wurde, zusätzlich zu einigen wenigen Neukompositionen von Allen. Prinzipiell also Musik, die man von Sun Ra selbst hören kann, wobei im Zweifelsfall immer das Original den Vorzug bekommt. Als lohnenswert empfinde ich Swirling aber gerade deshalb. Weil ein "Cover"-Album in diesem Sinne bei Sun Ra gar nicht möglich ist. Vor allem im Bereich Free Jazz ist es bekanntermaßen recht schwierig, eine Komposition ohne jede Spur von eigener kreativer Färbung zu übernehmen, da klare Vorgaben an vielen Stellen fehlen. Und mit der Masse an musischer Kraft, die in dieser Band vereint ist, kann man Gift darauf nehmen, dass es an originärer, neuer Energie hier viel zu holen gibt. Vor allem Saxofonist Marshall Allen beweist sich dabei auf seine alten Tage als abenteuerlicher Querdenker, indem er synthetische EWI-Sounds (Electronic Wind Instruments, sprich sowas wie Keytars nur als Blasinstrumente) immer wieder klassischen Gerätschaften vorzieht. Darüber hinaus erhalten hier viele ältere Stücke von Ra aus den Dreißigern und Vierzigern einen sehr modernen Anstrich, der mit seinen swingigen Big Band-Arrangements manchmal an die pompösen Jazz-Epen von Kamasi Washington erinnert. Auf der anderen Seite driften die Kompositionen im Bereich Gesang sehr in Richtung von afrikanischem Jazz, was ja thematisch auch irgendwie im Sinne des Erfinders ist. Und das wichtigste: Die Band schafft es, die Spannung der Songs auch wirklich über die immense Länge der LP zu halten, was eine gewaltige Leistung ist. Zwar sind nicht alle Momente hier auf gleiche Weise genial (Vor allem ein Song wie Unmask the Batman ist ein sehr unschöner und alberner Bruch mit dem sonstigen Sound der Platte), doch sind herbe Schwachstellen für ein Album dieses Ausmaßes beachtlich dünn gesät. Und allein die Tatsache, wie stabil die Dynamik des klanglichen Konzepts hier weitergetragen wird und die Kohärenz der Musik trotz der Verschiedenheit der einzelnen Tracks erhalten bliebt, ist nicht weniger als genial. Ganz unabhängig davon, ob es dem Erbe eines Sun Ra nun gerecht wird oder nicht ist es also ein ziemlich grandioses Stück moderner Jazzmusik. Futuristisch ist sie dabei nicht mehr unbedingt, aber vielleicht ist das hier ja die Zukunftsmusik, von der der verblichene Meister damals immer redete.
 
 
Hat was von
Shabaka & the Ancestors
We Are Sent Here By History
 
Kamasi Washington
the Epic
 
Persönliche Höhepunkte
Satellites Are Spinning / Lights On A Satellite | Seductive Fantasy | Swirling | Angels and Demons at Play | Sea of Darkness / Darkness | Rocket No. 9 | Astro Black | Infinity / I'll Wait for You | Door of the Cosmos / Say

Nicht mein Fall
Unmask the Batman

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