Freitag, 6. November 2020

Homosexuelle Propaganda

Dorian Electra - My Agenda 


[ provokant | exzentrisch | elektronisch | futuristisch ]
 
Dorian Electra als eine provokante künstlerische Person zu bezeichnen, ist definitiv eine Reaktion, die sich in Hinblick auf das Schaffen selbiger in den letzten Jahren ziemlich durchgesetzt hat. Nicht erst seit dem musikalischen Durchbruch mit Career Boy 2018, auch schon mit auffälligen Kunstaktionen, Filmprojekten und experimentellem Youtube-Content zuvor war Electra ein kreatives Phänomen, das selbst in der schrillen Online-Halbwelt seinesgleichen suchte und definitiv Aufmerksamkeit generierte. Und obgleich die dabei angesprochenen, oft sexuell aggressiv aufgearbeiteten Inhalte über queeres Selbstverständnis, Feminismus und Gender-Indentität durchaus nicht gerade mainstream waren und definitiv mit den üblichen Parametern brachen, die selbst in einem Genre wie Hyperpop irgendwie noch da sind, empfand ich den Begriff "provokant" dafür doch bisher als etwas zu stark. Denn allein die Tatsache, dass dieser Mensch nach landläufiger Auffassung in wenige Schubladen passt, sich keinem binären Geschlecht zugehörig fühlt und Kunst macht, die eher ungewöhnlich und hypermodern ist, sollte 2020 nichts sein, das man vor seinen Kindern versteckt. Provokant wird die Sache in meinen Augen erst dann, wenn ihr Ziel ist, die Endverbrauchenden vorsätzlich zu ärgern und anzustacheln. Und das ist der Punkt, an dem ein Album wie My Agenda die Sache doch nochmal ganz neu beleuchtet. Denn wenn man mich fragt, wird auf dieser LP die Sache mit Dorian Electra erst so richtig interessant. Nach ersten Single-Achtungserfolgen aus den Jahren zuvor war es 2019 das Debüt Flamboyant, das aus einem diffusen Internet-Phänomen einen vollwertigen künstlerischen Charakter machte, der sich über die Parameter dieses Albums Stück für Stück selbst ausdefinierte. Und obwohl ich die Platte bis heute musikalisch eher dürftig finde, war sie sehr gut darin, das abzugrenzen, was Dorian Electra als Kunstfigur ausmachte. Was niemand wusste war, dass damit gerade mal die Exposition eines ganzen kreativen Universums abgespielt war und My Agenda jetzt die LP ist, auf der es richtig witzig wird. Zwar geht das Ding insgesamt gerade Mal 25 Minuten und dringt musikalisch in wenig neues Terrain hervor (wobei man natürlich trotzdem sagen muss, dass Electras Songwriting und Performance alles andere als normal ist), doch sind es die inhaltlichen Spitzen, die das hier faszinierend machen. Denn auf vielen dieser Tracks nehmen die Texte absichtlich die (reichlich überzogene) Rolle des queeren Schreckgespensts ein, dessen Agenda (aha!) es ist, die weißmännliche Hetero-Hegemonie zu zerstören. Und an vielen Punkten geht das über die schlichte Androgynität oder positive Awareness-Messages der letzten Platten hinaus. So singt Electra im Titelsong tatsächlich davon, die gesamte Menschheit zur Homosexualität zu "konvertieren" und benutzt dabei absichtlich ungekehrt konservative Rhetoriken. An wieder anderen Stellen, vor allem in Gentleman und M'lady, geht es um traditionelle Mann-Frau-Rollenbilder und Sorry Bro (I Love You) parodiert die krude heteromännliche Halbangst, alle schwulen Männer wären in sie verliebt. Nicht selten sind die Texte, die dazu rezitiert werden dann sehr explizit sexuell und scheuen nicht vor farbenfrohen, expliziten Details zurück. Und wo gerade diese Stellen gerade ein bisschen für Kritik gesorgt haben, weil sie sehr invasiv seien, sehe ich hier auch die wesentliche künstlerische Absicht von My Agenda und seine große Cleverness. Denn wenn man mich fragt, ist dieses Album nichts anderes als ein sehr geschickt subversierter Troll-Move, abgezielt auf Konservatismus und Homofeindlichkeit, die Charakteren wie Dorian Electra entgegenschlagen. Dieses Album will ganz bewusst diejenigen Leute ansprechen, denen es beim Gedanken an gleichgeschlechtliche Liebe, Queerness und nonbinäre Gender-Indentität gruselt und ist bereit, deren Grusel sein. Wenn Electra in Edgelord fragt "did I offend you? I'm so curious" ist das natürlich primär ein Seitenhieb an irgendwelche Pappnasen auf 4Chan, aber vielleicht auch durchaus ernst gemeint. Denn gerade diese Leute könnten das hier unter Umständen ziemlich widerlich und - ja - provokant finden. Was aber bedeuten würde, dass die Platte in umfassender Weise ihr Ziel erreicht hat, denn dann hat sie genau diese Leute mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Und für diesen genialen künstlerischen Move muss ich ganz einfach meinen Hut vor Dorian Electra und My Agenda ziehen. Denn damit wurde hier nicht nur eine Figur erweitert, sondern vielleicht auch ein paar böse Jungs geärgert. Das ist edgy, aber in cool. Schön, dass sowas existiert.
 


 
Hat was von
Slayyyter
Slayyyter
 
Poppy
I Disagree
 
Persönliche Höhepunkte
F the World | Gentleman | M'Lady | Iron Fist | Barbie Boy | Sorry Bro (I Love You) | Monk Mode | Ram It Down | Give Great Thanks
 
Nicht mein Fall
-
 

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