Dienstag, 25. Juli 2023

Review: In die Breite

Drive Like Jehu - Yank Crime
DRIVE LIKE JEHU
Yank Crime
Headhunter | Interscope
1994













[ aggressiv | drängend | clever ]

Ein weiteres Mal ist es an dieser Stelle leider das traurige Ableben eines Musikers, das mich hier zu einer Albumbesprechung inspiriert und mich anhält, seinem Werk - oder zumindest einen entscheidenden Teil davon - zu gedenken. Die Rede ist in diesem Fall von Rick Froberg, einem Urgewächs der kalifornischen Hardcore-Szene, dessen Platten in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Favoriten von mir waren. Dass das nicht immer bewusst der Fall war, erahne ich allerdings teilweise erst jetzt und lerne noch einige neue Dinge. So wusste ich auf der einen Seite zwar schon lange, dass Froberg zuletzt im wesentlichen als Sänger der Hot Snakes tätig war, die ich  immer wieder als großartige Hardcore- und Punk-Formation kennen und lieben lernte und über die ich auch auf Drive Like Jehu kam, unbekannt war mit jedoch zum Beispiel seine Beteiligung bei der Band Obits, deren Song I Want Results von 2011 immerhin mal ein ziemlicher Playlisten-Dauerbrenner von mir war. Und da haben wir noch gar nicht mal über die handvoll anderen Bands geredet, in denen Froberg während der leider viel zu kurzen 55 Jahre seines Lebens aktiv war. An dieser Stelle soll es dann aber doch einmal mehr um die Gruppe gehen, über die bei ihm immer alle reden und die trotz ihrer sehr überschaubaren Diskografie einen echten Hardcore-Klassiker auf dem Kerbholz hat: Drive Like Jehu mit ihrem zweiten und letzten Album Yank Crime. Dem Album, das wie wenige andere als Taufpate für das in den Neunzigern aufkeimende Subgenre des Posthardcore gilt und dessen Verdienst für selbiges ich auch als jemand anerkennen muss, der eigentlich gerne einen großen Bogen um diese Stilzuschreibung macht. Denn an Yank Crime erkennt man wirklich sehr gut, wie sich aus der rohen und aggressiven Ursuppe des Genres etwas schält, das mehr sein will als nur angepisstes Geholze und dabei sogar ein bisschen technisch und ausufernd sein darf. Klar ist es dabei auch wichtig festzustellen, dass es bereits vorher Gruppen wie Minutemen, NoMeansNo, Hüsker Dü oder Slint gab, die solche Ideen vorformulierten (letztere sogar um einiges radikaler als Drive Like Jehu) und einen sehr progressiven Sound hatten. Ganz davon abgesehen, dass auch von dieser Band bereits ein Debüt existierte, das man stilistisch irgendwo in diesem Bereich verorten kann. Statt also zu sagen, dass Yank Crime den Posthardcore linear weiterführte, würde ich eher sagen, dass er ihn in die Breite erweiterte und um eine weitere Facette ergänzte. Denn unter den Hardcore-Bands der frühen Neunziger sind Drive Like Jehu heimlich so etwas wie altmodische Rockstars: Im Zentrum ihres Songwritings steht weder das stumpfe Gefauche des Achtziger-Punk-Spirits, das nur seine Messages in den Mittelpunkt stellt noch das verwegen-entrückte Lamento der ersten Emo/Math/Postrock-Generation, sie wollen richtige Songs schreiben. Und dafür ist es in erster Linie ungemein hilfreich, dass sie mit John Reis einen der talentiertesten und grandiosesten Gitarristen des Punkrock unter sich haben, der auf diesem Album eine seiner vielleicht größten Glanztaten abfährt. Klar ist diese dann vorwiegend durch ihre brachiale und kantige Natur gezeichnet und sehr in den Traditionen der Szene verflochten, man hört aber auch einen leicht psychedelischen Thurston Moore-Einflüss dabei raus, ebenso wie umfangreiche Emo-Versatzstücke wie von Slint oder Rites of Spring. Beeindruckend ist für mich dabei vor allem seine Wandelbarkeit und Dynamik, die sich auf der einen Seite in messerscharfen Riff-Granaten wie Human Interest oder Here Come the Rome Plows äußert, auf der anderen aber auch minimalistisch und düster sein können wie in Super Unison oder Sinews. Und weil nicht wenige Songs hier auch mal deutlich die Fünf-Minuten-Marke überschreiten (mit elf Tracks kommt Yank Crime auf eine Länge von knapp einer Stunde, was für Punk-Verhältnisse schon recht umfangreich ist), kann das auch mal beides in einem Song stattfinden. Extrem kohärent ist das Album am Ende trotzdem und trotz seiner vielen Nuancierungen keine besonders dynamische Angelegenheit. Ein Problem ist das aber nie, weil die stilleren Momente gerade dafür reichen, dass das ansonsten stattfindende Dauerfeuer in über einer Stunde nicht nervtötend wird. Um aber mal zu Rick Froberg zurückzukommen: Auch der sollte bei alledem nicht unerwähnt bleiben. Denn obwohl der Faktor Gesang bei der Übershow von John Reis definitiv eine untergeordnete Rolle spielt, nimmt er die von der Gitarrenarbeit ausgehende Marschrichtung optimal mit. Als ein Sänger, der sowohl herrlich kaputt schreien kann als auch ein untersetzt sprechsingendes Gen-X-Lamento beherrscht, ist er in jedem Moment die perfekte Ergänzung für Reis und den Rest der Band, der den Sound des Albums wunderbar abrundet. Und letzteres ist am Ende wahrscheinlich auch der Aspekt von Yank Crime, der es zu so einer großen Nummer machte oder der zumindest dafür sorgt, dass man hier so viele später bekannte Bands und Künstler*innen heraushört: Die angezeckte Gesangsperformance eines Dennis Lyxzén von Refused, den derwischhaften Gitarrenstil eines Omar Rodriguez-López bei At the Drive-In, in den leisen Momenten die perkussiven Strophenteile von American Football, in den lauten den rumpelnden Indierock von Modest Mouse. Und obwohl mit Drive Like Jehu nach diesem Album Schluss war, bleibt es zum Glück kein Mysterium, wie die Symbiose aus John Reis und Rick Froberg zukünftig klingen würde, denn beide gründeten nur wenige Jahre später mit den Hot Snakes die inoffizelle Nachfolgeband dieses Projekts, die klanglich auch bis zuletzt deren Erbe fortführten. Wobei nach Frobergs Tod leider auch deren Zukunft ungewiss ist...

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11


Persönliche Höhepunkte
Here Come the Rome Plows | Golden Brown | Super Unison | New Intro | New Math | Human Interest | Sinews | Hand Over Fist | Bullet Train to Vegas

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Refused
Songs to Fan the Flame of Discontent

Slint
Spiderland


Samstag, 22. Juli 2023

Die Wochenschau (10.07.-21.07.2023): PJ Harvey, Little Dragon, Anohni & the Johnsons und und und...


 
 
 
 
 
Grian Chatten - Chaos for the FlyGRIAN CHATTEN
Chaos for the Fly
Partisan

Grian Chatten war im Vorfeld dieses Albums nicht wirklich der Typ Musiker, von dem ich ein Soloprojekt erwartbar oder gar wünschenswert gefunden hätte und gemessen an meiner doch recht skeptischen Haltung zum Output seiner Band Fontaines D.C. ist es doch zumindest eine mittelgroße Überraschung, wie gut ich das hier finde. Sehr wahrscheinlich liegt das aber daran, dass Chatten hier mehr oder weniger vollumfänglich aus dem meiner Ansicht nach sehr eingefahrenen Postpunk-Entwurf der Bandplatten aussteigt und sich stattdessen einer Art süßlichem Edelfolkpop widmet, der auch vor üppigen Streicher- und Bläsereinsätzen nicht zurückschreckt. Ein bisschen erinnert mich das vom Move her an Iceage-Frontmann Elias Bender Rønnenfelt und dessen unterschätztes Solo-Schrägstrich-Supergroup-Projekt Marching Church, nur dass Chatten nicht so viel gothige Nick Cave-Düsternis braucht, um trotzdem richtig gut zu sein. Songs wie Fairlies, the Score oder Bob's Casino sind teilweise sogar richtiggehend farbenfroh und profitieren davon immens. Und wenn es wie in All of the People dann doch mal ein bisschen gedrückter wird, ist die Attitüde eher im souligen Songwriterpop zu verorten als im kantigen Achtzigerjahre-Postpunk. Vor allem sorgt es aber dafür, dass Chatten sich kompositorisch mal wieder so richtig von seiner Schokoladenseite zeigt und ganz nebenbei vielleicht sogar ein bisschen eingängiger wird.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11
 
 
 
 
 
PJ Harvey - I Inside the Old Year DyingPJ HARVEY
I Inside the Old Year Dying
Partisan

Nach ihren zwei sehr explizit politisch verorteten Alben Anfang bis Mitte der Zwotausendzehner und einer ausgedehnten Phase danach, in denen sie vornehmlich Soundtracks für Filme und Serien komponierte, ist I Inside the Old Year Dying zum ersten Mal seit langem wieder eine verhältnismäßig "konventionelle" PJ Harvey-Platte, die mit bewährten Attributen punktet und deren Existenz hauptsächlich darin besteht, ihren 2022 erschienenen Gedichtband Orlam musikalisch zu vertonen. Unterstützung findet sie dabei einmal mehr in ihren beiden bewährten Langzeit-Kollaborateuren Flood und John Parish, deren gemeinsam angelegter Sound hier behutsam rustikale Folk-Elemente mit experimentellen Electronica-Einschüben austariert. Wichtigster Referenzpunkt ist dabei stets PJ Harvey selbst, die mit ihrem einnehmenden Gesang innerhalb der recht kargen Soundkulissen nicht nur durchweg die Ästhetik der Platte dominiert, sondern nach sieben Jahren ohne richtiges neues Material auch eine angenehme Vertrautheit ausstrahlt. Und wenn ihre Songs manchmal an andere Sachen erinnern, dann auf spannende Weise zum Beispiel an Neil Young (Lwonesome Tonight), Portishead (Prayer at the Gate) oder Thom Yorke (All Souls). Ein wirklich kohärentes Albums ist I Inside the Old Year Dying abgesehen von seinen vielen lyrischen Querverweisen dabei nicht und stilistisch oft sehr breit gefächert, schlimm ist das aber in keinem Moment. Denn nicht nur gibt es unter dem Dutzend Songs dieser Platte keinen einzigen schwachen, die Präsenz von Harvey als Sängerin dient auch dazu, dass die Stücke sich trotz ihrer Vielschichtigkeit ganz gut zusammenbinden. Womit diese LP zumindest für mich persönlich wahrscheinlich ein bisschen diejenige ist, in denen nicht mehr nur sie selbst, sondern auch langsam ihr eigener Mythos zu spüren ist. Ein Mythos, den sie sich nicht zuletzt auch mit diesen Songs redlich verdient hat.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11
 




LITTLE DRAGON
Slugs of Love
Ninja Tune
 

Yukimi Nagano hat beim Schreiben der Songs fürs neue Album anscheinend festgestellt, dass sie mit dem richtigen instrumentalen Backing mehr als nur ein bisschen wie Kali Uchis klingen kann und das als Anlass genommen, hier einige der smoothesten und coolsten Pop-Nummern ihrer gesamten Karriere zu schreiben. Dass sie sich am Ende trotzdem dagegen entschieden hat, eine R'n'B-Platte zu machen, war aber eine gute Entscheidung. Denn durch die Symbiose, die die fluffigen Einschübe aus Neo-Soul und Funk hier mit dem typischen Elektropop der SchwedInnen eingehen, entstehen mal wieder einige der besten Songs, die Little Dragon in den letzten Jahren komponiert haben. Nach dem etwas ausgerutschten New Me, Same Us vor drei Jahren ist Slugs of Love damit die konsequente Fortsetzung einer der stärksten Karrierphasen der Band aus Göteborg und mal wieder ein starkes Argument dafür, dass man sie keineswegs abschreiben sollte.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11
 



ANOHNI and the Johnsons - My Back Was a Bridge for You to CrossANOHNI & THE JOHNSONS
My Back Was A Bridge for You to Cross
Rough Trade


Nach einem Album als Solokünstlerin vor mittlerweile auch schon wieder sieben Jahren schart Anohni Hegarty nun doch wieder ihre Backingband um sich und kehrt damit ein bisschen zurück zum eingesessenen Sound, mit dem sie in den Zwotausendern bekannt wurde, kann aber auch nicht komplett die neuen Wege verleugnen, die sie 2016 auf Hopelessness gefunden hat. Wobei das glücklicherweise nicht heißt, dass My Back Was A Bridge die dort begangenen Fehler wiederholt. Viel eher setzen die Johnsons ihre (im Vergleich zu Anohni solo) sehr viel rustikalere und organischere Kompositionsweise ein, um auf diesem Album eine Ästhetik zu schaffen, die sehr von klassischer Soulmusik aus den Siebzigern inspiriert ist und in vielen Momenten etwas vollkommen neues darstellt. Nicht immer ist das so deutlich wie im Opener It Must Change, der nicht nur klanglich den Vibe von Marvin Gaye und Curtis Mayfield atmet, immer jedoch findet sich - vor allem in der Gitarrenarbeit vieler Songs - eine leichte Groovigkeit, zu der Anohnis klagendes und sich windendes Timbre auch erstaunlich gut passt. Überhaupt ist My Back Was A Bridge nach dem recht dürftigen Hopelessness und selbst dem mittlerweile schon über eine Dekade alten, aber ebenfalls minderbemittelten letzten Johnsons-Album Swanlights wieder ein echtes Ausrufezeichen der Band, das mich positiv überrascht hat. 
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11
 




Chepang - SwattaCHEPANG
Swatta
Gurkha Commando Blast Team


Nachdem die New Yorker von Chepang mich 2020 auf Chatta mit einem der kreativsten und spannendsten Grindcore-Alben der letzten paar Jahre überrascht hatten, waren meine Erwartungen für diesen Nachfolger, der in vielen Belangen auch als geistige Fortsetzung der letzten Platte gedacht zu sein scheint, einigermaßen hoch. Und man kann definitiv sagen, dass Swatta dessen Spirit auch opulent erweitert. Auf ganzen 29 Songs in knapp 50 Minuten präsentieren Chepang hier eine grob in drei Teile aufgesplittete Grind-Achterbahnfahrt, die sämtliche Register zieht und vor allem haufenweise szenerelevante Hardcore-Prominenz dazuholt. Dass sie dem Hype damit gerecht werden, kann man aber leider trotzdem nicht sagen. Denn oftmals will die Band hier zu viel und macht trotzdem zu wenig und hat in einer XL-Variante ein bisschen das gleiche Problem wie letztes Jahr schon Wormrot: Im Bestreben, eine möglichst kreative und vielschichtige Fusion von Grind-Elementen zu erzeugen, verlieren sie völlig den Blick fürs Songwriting und die Kohärenz. Wobei es in diesem Fall auch erstaunlich ist, wie monoton und eingeschlafen Swatta an einigen Stellen trotzdem klingt. Über ein Grindcore-Album kritisieren zu müssen, dass es seine Längen hat, zeigt definitiv profunde Probleme auf, ist hier aber leider der Fall. Da hilft auch die an sich nette Idee mit der thematischen Aufteilung nicht wirklich viel: Wo Chepang in den Tracks eins bis zehn noch relativ klassisch losmetern und ein paar zünftige Bretter vernageln (wobei zumindest die beiden Drummer Topleistungen abrufen können), geht Teil Zwei (etwa Track 11 bis 24) mit seinen vielen Features schon deutlich mehr aus dem Leim und spätestens der Schluss der LP (25 bis 29) verwurstelt sich nur noch in avantgardistischen Noise-Gewittern, die den letzten guten Eindruck ruinieren, den der Vorgänger vor drei Jahren machte. Swatta ist dabei definitiv eine besondere Platte geworden, die einmal mehr Chepangs Status als Querulanten im sonst recht hölzernen Grindcore-Zirkus hervorhebt. Diesmal ist das Ergebnis aber definitiv ein bisschen zu viel des Guten.
 
🔴🔴🔴🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 05/11
 
 
 
 
 
 

Montag, 10. Juli 2023

Die Wochenschau (01.07.-09.07.2023): Lil Uzi Vert, Kim Petras, Portugal. the Man, Swans und und und...


 
 
 
 
 
 
 
Portugal. The Man - Chris Black Changed My LifePORTUGAL. THE MAN
Chris Black Changed My Life
Atlantic

Nach dem dem doch ziemlich überraschenden Riesenerfolg ihres letzten Albums Woodstock, das Portugal. the Man vor sechs Jahren als gestandene Indie-Veteranen via Quotenhit doch noch in den Pop-Mainstream katapultierte, brauchte es anscheinend erstmal eine künstlerische Neujustierung bei der Gruppe aus Portland. Das lässt sich schon daran erkennen, dass der Nachfolger des Durchbruchs schon wieder so lange gebraucht hat, aber auch musikalisch ist Chris Black Changed My Life kein logischer nächster Schritt nach Woodstock. In nicht wenigen Momenten klingen Portugal. the Man hier wieder so quirky und psychedelisch wie zuletzt Anfang der Zwotausendzehner, an anderen stößt das Quintett stilistisch in komplett neues Territorium vor. Eine Tendenz, zu der auch eine Gästeliste passt, die mit Leuten wie Natalia Lafourcade, Black Thought, Unknown Mortal Orchestra und Edgar Winter einige echt weirde Gestalten versammelt. Und obwohl es am Ende trotzdem noch Popsongs wie Ghost Town oder Summer of Luv gibt, die das Erbe des Vorgängers zumindest ein bisschen antreten, sind diese mit Abstand die schwächsten Stücke der Platte. Einen kohärenten Eindruck von Chris Black zu bekommen, machen diese vielen unterschiedlichen Marschrichtungen nicht immer einfach und an manchen Stellen ist die Platte auch wirklich nicht besser als mittelmäßig. Spannend ist sie, vor allem als Reaktion auf Woodstock, aber auf jeden Fall. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11






Swans - The BeggarSWANS
the Beggar
Young God | Mute


Auf über zwei Stunden Spielzeit und mindestens einen Song über 30 Minuten kommen Swans mit ihrem neuesten Koloss von einem Album immer noch, das Dauerfeuer ihrer letzten klassischen Phase in den Zwotausendzehnern ist aber merklich runtergebrannt. Schon Leaving Meaning von 2019 ging stark in diese Richtung und präsentierte einen etwas gedimmteren Sound, dort war das aber noch ein Manko. Vier Jahre später auf the Beggar schafft die Band es, diese Ästhetik mit einem stärkeren Songwriting und größerer klanglicher Vielfalt zu vereinen und wieder ein Album zu schaffen, dass an ihre Mammut-Trilogie zwischen 2012 und 2016 erinnert. Auffällig ist dabei, wie viel sie bei Komposition und Sound bei the Velvet Underground und den Stooges abgeschaut haben, schlecht muss das aber nicht sein. Und mit Songs wie Ebbing, Michael is Done, Los Angeles: City of Death und vor allem dem 44-minütigen Epochalklopper the Beggar Lover (Three) gelingen der Formation auch mal wieder ein paar echte Einzeltrack-Highlights. Damit ist the Beggar in meinen Augen vielleicht ihre beste Platte seit the Glowing Man und zeigt mir, dass das ziemlich eingefahrene Konzept ihres ja nun schon eine Weile andauernden zweiten Bandfrühlings immer noch zieht, wenn man nur an den richtigen Schrauben dreht. Bei all den guten Nachrichten aber nicht vergessen: Gegen Michael Gira existieren nach wie vor Missbrauchsvorwürfe, die viele Fans der Band leider konsequent ignorieren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11



Kim Petras - Feed the BeastKIM PETRAS
Feed the Beast
Republic
 
 
Kim Petras ist allerspätestens 2023 die Sorte Popstar, die das neue Jahrzehnt verdient hat und Feed the Beast in diesem Sinne auch endlich das Album, das dieses Prädikat mit voller Größe ausfällt. Vom lange angehängten Hyperpop-Etikett, das an ihrer Musik ohnehin schon immer mäßig gut haften blieb, kann man spätestens hier die erste Silbe streichen, weil die meisten Songs hier eher Dua Lipa als Charli XCX sind und die Übergänge sowieso fließend. So gibt es zwar auf der einen Seite hibbelige Kaugummi-Beats in Castle in the Sky und die nächste überflüssige Alice Deejay-Hommage auf Alone, dann aber auch wieder klassisch-elegante Dancepop-Momente wie Revelations (vielleicht mein liebster Song hier) oder Sex Talk, die auf ganz herkömmliche Weise eingängig sind. Die herausstehenden Hitmomente wie Alone oder den Titelsong, die am Anfang von den wirklich guten Songs im Mittelteil ablenken, finde ich zwar nicht so ideal, ebenso wie die Tatsache, dass Dr. Luke hier weiterhin als Producer angestellt ist und der nölige Sam Smith-Quotenhit Unholy nochmal sein musste. Abgesehen davon ist Feed the Beast aber ein durchweg gelungenes Album, das vor allem auf Seiten der Produktion Maßarbeit leistet. Für mich persönlich ist es damit das vorläufige Referenzwerk des Mainstream für diese Saison, an dem alle anderen jetzt erstmal vorbei müssen. Wobei es definitiv zum Status des ganzen dazugehört, dass es von einer Transfrau kommt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





M. WARD
Supernatural Thing
Anti-

M. Ward - Supernatural ThingBisher hatte mich die Musik eines M. Ward, dessen fluffiger Countryfolk schon seit Dekaden für die eher übergemütliche und Kulturradio-mäßige Seite des Indierock steht, in keinster Weise tangiert und dass ich hier auf den Geschmack komme, ist auch eher glücklicher Zufall. Die Art und Weise jedoch, wie er auf Supernatural Thing die besten Eigenschaften von Father John Misty und Kurt Vile kombiniert, hat mir schon ziemlich imponiert. Denn obwohl vieles an diesem Album noch immer sehr gefällig und glatt zurechtgemacht ist, ist das starke Songwriting an vielen Stellen zu ansteckend, um dafür keine Ausnahme zu machen und die zahlreichen Features von Leuten wie First Aid Kit, Jim James oder Neko Case - mit denen ich sonst ähnliche Probleme hatte wie bisher mit Ward - zu gekonnt inszeniert, um falsche Coolness vorzutäuschen. Eine der definitiv stärksten Singer-Songwriter-Platten des bisherigen Jahres und für mich sicherlich auch eine, über die ich hier nicht das letzte Wort verloren habe.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






Lil Uzi Vert - Pink TapeLIL UZI VERT
Pink Tape
Generation Now


Die gute Nachricht zuerst: Mit Pink Tape kann man Lil Uzi Vert definitiv nicht mehr vorwerfen, den üblichen monotonen Traprap-Mist als großen Wurf zu verkaufen. Und wenn ich eines mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, dann dass ich bisher keines der Alben dieses Acts so spannend fand. Der Streit darüber, ob das nun wirklich ein positives Urteil ist, ist aber mindestens genauso sicher und Pink Tape in sich so polarisierend wie wenige Platten, die ich in den letzten Jahren gehört habe. Und vor allem der erste Hördurchlauf wurde für mich in diesem Sinne zur Achterbahn der Gefühle, die an jeder Ecke die wildesten Überraschungen zu bieten hatte. So dachte ich zunächst eigentlich, dass das hier ein fantastisches Album wäre, da das komplette erste Drittel der LP zwischen Flooded the Face und x2 mit dem Übergang zum rotzigen Ragerap der Marke Playboi Carti wirklich erste Sahne ist und einige Songs echte Highlights in Uzis Karriere sein dürften. Nur wurde es danach doch sehr schnell sehr eigenartig. Da wäre zunächst das komplett überflüssige Endless Fashion mit Nicki Minaj, das schon der zweite Song innerhalb eines Jahres ist, der sich am kultigen Neunziger One-Hit-Wonder Eiffel 65 vergeht, später folgen mit Mama I'm Sorry und Nakamura zwei grauenvolle Trap-Balladen, von denen vor allem die letzte zu den bisher schlimmsten Momenten in Uzis Katalog gehört. Den Vogel schießt die Platte aber mit CS ab, für das ausgerechnet System of A Downs Chop Suey als Remix-Grundlage herhalten muss und das wahrscheinlich selbst vom miesesten Karaoke-Knilch nicht so grauenvoll gecovert wurde wie es hier passiert. Und weil man an diesem Punkt schon alle Höhen und Tiefen mit dieser LP durchhatte, wundern einen im letzten Drittel auch himmelschreiende Schrägheiten wie das metalcorige Werewolf (das von Featuregast Bring Me the Horizon quasi komplett vereinnahmt wird) oder die wüste J-Rock-Anarchie von the End nicht mehr, für die Uzi zum Schluss noch Babymetal und Powerviolence-Anleihen aus dem Hut zaubert. Gute Songs wie Pluto to Mars, Just Wanna Rock oder Fire Alarm gibt es zwischendrin auch noch, die verfliegen irgendwann aber auch im Fieberwahn, den dieses Album in seinen 86 Minuten Spielzeit an gewissen Punkten definitiv verursacht. Hat man seine Fassung irgendwann wieder, lässt sich konstatieren, dass Pink Tape gleichzeitig Uzis bestes und schlechtestes Werkstück bisher ist und auf gewisse Weise einen Ruf ruinieren wird, der eh schon fragwürdig war, nach dem Mistjahr 2020 und der Flaute danach ist es aber auch irgendwie ein wichtiges Ausrufezeichen, dass die Fanbase wieder zu beschäftigen weiß. Und eine Sache kann man jetzt ohne jeden Zweifel sagen: Bei dieser Person kann man Stand jetzt mit allem rechnen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 06/11




Geese - 3D CountryGEESE
3D Country
Partisan | [PIAS]


Innerhalb der vergangenen zwei Wochen wurde 3D Country, das zweite Album der New Yorker Gruppe Geese, an ziemlich vielen Orten im Internet an die Oberfläche gespült und dabei fast von allen als das große neue Indierock-Aha-Erlebnis des Sommers gefeiert. Und woher diese Aufmerksamkeit kommt, lässt sich auf jeden Fall leicht nachvollziehen: Geese klingen hier wie die weirdest mögliche Vermählung aus Black Midi, den Viagra Boys und Battles, die man sich vorstellen kann und ihr Sänger auch manchmal wie eine geisteskranke Mischung aus Mick Jagger, Arthur Brown und Josh Homme. Außerdem kann man sich bei einem Artwork wie diesem ja vorstellen, dass die Band ein bisschen einen Clown gefrühstückt haben muss. 3D Country ist aber nicht nur herrlich schräg, es ist songwriterisch auch durchweg klasse gemacht, klanglich detailverliebt und für ein Rockalbum mit diesen Referenzen maximal zeitgenössisch, was es über die Wirkung eines spontanen Hinguckers hinausbringt. Überhaupt braucht es in meinen Augen erstmal ein paar Durchläufe, um wirklich seine volle Wirkung zu entfalten und die besten Songs der Tracklist befinden sich erst in der zweiten Hälfte. Wer also 2023 noch eine Rockplatte gesucht hat, die tatsächlich nach 2023 klingt, sollte hier definitiv mal vorbeischauen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11