Sonntag, 24. Juli 2022

Bad Boys (What U Gonna Do?)

Viagra Boys - Cave World
VIAGRA BOYS
Cave World
YEAR0001
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ sozialkritisch | psychotisch | sardonisch ]

Es war vor gar nicht allzu langer Zeit, da hielt ich (und damit war ich sicherlich nicht der einzige) die Viagra Boys noch für eine dämliche Spaßband, die abgesehen von ein paar mäßig witzigen Novelty-Quotenhits für den Indiebros dieser Welt wohl nicht viel zu bieten hatten und über die ich meinte, wir würden 2022 wahrscheinlich schon gar nicht mehr über sie reden. Dann allerdings kam letztes Jahr ihr zweites Album Welfare Jazz raus, das meine Meinung zu ihnen dann doch noch ziemlich umfangreich zu ändern vermochte. Der trockene Postpunk-Entwurf, den die Schweden bis dahin spielten, bekam hier ein paar echt kreative Facetten verpasst und wurde dadurch um einiges spannender, vor allem aber entpuppte sich Sänger Sebsatian Murphy, den ich vorher für einen mittelmäßig talentierten verkrachten Slackertypen hielt, als ernsthaft fähiger Lyriker, dessen erzählerischer Charakter auf Welfare Jazz den entscheidenden Unterschied machte. Womit die Viagra Boys für mich sehr plötzlich zu einer Band wurden, an die ich ernsthafte Erwartungen hatte und von der ich gerne mehr hören wollte. Dass mit Cave World so bald eine neue Platte von ihnen erschien, freute mich in erster Linie also sehr. Und eigentlich hätte es mir an diesem Punkt gereicht, hätten sie hier einfach genau dort weitergemacht, wo sie letzten Winter aufgehört hatten: Räudige Punksongs über toxische Typen mit Gesichtstattoos, Kampfhund-Fetisch und kaputter Leber, die sich für die absolut größten halten und in ihrem eigenen Elend sonnen. Und in gewissen Punkten ist Cave World auch genau das geworden. In nicht wenigen Songs auf diesem Album wird das Narrativ erneut von den schrägen Charakteren geprägt, in deren Haut Sebastian Murphy sich hier einspinnt und die auch nicht groß anders sind als auf dem Vorgänger. Da erzählt er im Opener Baby Criminal vom Werdegang eines Teenagers, der auf die Schiefe Bahn gerät (was sich ein bisschen anfühlt wie die Backstory eines der Charaktere auf Welfare Jazz), in Ain't No Thief brilliert er mit hanebüchenen Erklärungen darüber, wieso er zufällig die gleichen Gegenstände besitzt wie du und Big Boy (mit einem etwas unnötigen Gastauftritt von Sleaford Mod Jason Williamson) ist ein weiterer dieser herrlichen Songs, in denen sich Murphy in seinem eigenen Arschlochsein sonnt und dabei wunderbar charismatisch ist. Und wenn man dazunimmt, dass viele dieser Songs auch nochmal ein bisschen flotter und opulenter gespielt und produziert sind als zuletzt, macht das schon ordentlich Fun. Nur ist das leider nicht das einzige, was dieses Album macht. Denn was auf Cave World ebenfalls ziemlich reichhaltig stattfindet und am Ende sogar den präsenteren Teil davon ausmacht, ist ein neu gefundener Hang der Viagra Boys zu einer bestimmten Sorte sozialkritischer Kommentare, die leider wesentlich schlechter funktionieren als das ganze andere Zeug. Und das obwohl die Idee dahinter auf dem Papier eigentlich echt clever klingt. Statt nur in diffuse Arschlochrollen schlüpft Murphy hier auch sehr oft in die von dämlichen Reddit-Incels, Verschwörungstheoretikern, Coronaleugnern oder generellen Troll-Persönlichkeiten, die ja von seinen bisherigen Charakteren eigentlich nur einen Steinwurf entfernt sind. Doch haben seine Texte an diesen Punkten dann oft nicht mehr jene sarkastisch-verkrachte Qualität, die es dafür braucht, sondern sind in gewissen Punkten eher parodierend oder im schlimmsten Fall sogar belehrend formuliert, was einfach keine Haltung ist, die ihnen besonders gut steht. In Creepy Crawlers mag das noch gehen, weil Murphy hier wenigstens richtig in diese Rolle einsteigt und zumindest eine mittelprächtige Persiflage liefert, in Songs wie Troglodyte oder the Cognitive Trade-Off Hypothesis fühlt sich das ganze aber einfach nur arrogant und besserwisserisch an. Und eben gerade nicht auf diese kaputte, augenzwinkernde Art, die ich an ihnen sonst so mag. Und wenn es dazu auch noch etwas füllerige Tracks wie ADD oder Punk Rock Loser gibt, beschleicht mich schon manchmal wieder das Gefühl, dass ich mit meiner ursprünglichen These über die Viagra Boys vielleicht doch Recht hatte. Zwar ist Cave World nicht unbedingt ein schlechtes Album und die starken Momente überwiegen hier nach wie vor die schwachen, doch bekomme ich schon irgendwie den Eindruck, dass diesmal nicht so viel Plan dahinter steckt wie beim letzten Mal. Die Songs, in denen die Schweden hier wirklich brillieren, sind meistens nur aufgepeppte Versionen der Ästhetik vom letzten Mal und mit dem meisten Zeug, das hier stilistisch neu dazukommt, vertut sich das Album auf die ein oder andere Weise. Nach einem langfristig stabilen Konzept sieht das hier also nicht gerade aus. Und obwohl ich durchaus bereit bin, mich von den Viagra Boys ein weiteres Mal eines besseren belehren zu lassen, ist es wohl auch nur realistisch, dass sie bald vielleicht doch nur eine weitere Postpunk-Band der Sorte Fontaines D.C., Protomartyr oder Preoccupations werden, über die wir auch mal dachten, wir würden sie für immer interessant finden. Zumindest waren sie es aber für einen Moment lang wirklich.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11


Persönliche Höhepunkte
Baby Criminal | Ain't No Thief | Big Boy

Nicht mein Fall
Punk Rock Loser | the Cognitive Trade-Off Hypothesis | ADD


Hat was von
Parquet Courts
Wide Awake!

Idles
Joy As An Act of Resistance


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