Sonntag, 10. Juli 2022

Archaische Meditation der Stimmen

Hatis Noit - Aura
HATIS NOIT
Aura
Erased Tapes
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ a capella | kunstig | ätherisch ]

Es ist nicht gerade ein besonders guter Ruf, den der künstlerische Bereich der A Capella-Musik in den meisten Ecken der Popwelt genießt und ich könnte an dieser Stelle sicherlich auch mit einem ausführlichen Rant darüber anfangen, was soziale Videoplattformen und die preisgünstige Verfügbarkeit von Loopstations furchtbares mit dieser Kunstform angestellt haben. Da es in diesem Artikel aber um ein Album geht, das ich als positives Gegenbeispiel zu den gängigen Trends des A Capella anführen würde, spare ich mir meine Gehässigkeit lieber und rede stattdessen darüber, was Hatis Noit bei der ganzen Sache richtig macht. Wobei man direkt im Vorfeld dieser Anführungen erstmal sagen muss, dass ihr Ansatz der unbegleiteten Vokalmusik von Vornherein ein völlig anderer ist als der irgendwelcher Youtuber*innen mit zu vielen guten Erinnerungen an die Schulchorzeit. Denn nicht nur merkt man dieser Frau in ihrer Musik sehr deutlich an, dass hinter ihrer Arbeit eine sehr ernstzunehmende Gesangsausbildung steht (die zwar laut ihrer Biografie größtenteils autodidaktisch stattfand, sich aber trotzdem messbar in Dingen wie einem extrem beeindruckenden Stimmumfang oder der Expertise diverser Vokalstile niederschlägt), Hatis Noit ist außerdem in jeder Faser ihres Künstlerinnendaseins sehr experimentell unterwegs. Wenn ihr hier vorliegendes Debütalbum also mit irgendwelchen anderen bekannten A Capella-Projekten vergleichbar sein soll, dann am ehesten mit Sachen wie Björks schrägen Exkursen in die Vokalkomposition auf Médulla, dem verhuschten Ambient einer Julianna Barwick oder der Chormusik eines John Tavener oder Arvo Pärt. Denn obwohl man auf jeden Fall sagen kann, dass Aura in seiner Ästhetik sehr schöngeistig, ätherisch und einlullend ist, ist es doch auch definitiv ein ziemlich herausforderndes Album. Nicht immer sind die Harmonien hier ganz stimmig, Repetitionen einzeler Phrasen sind quasi der Kern von Hatis Noits Songwriting und dass die Texte durchweg auf japanisch sind, ist insofern auch schon wieder egal, als dass der Großteil der Melodien ohnehin nur aus völlig abstrakten Vokalisen besteht, von denen man nie so richtig weiß, ob sie überhaupt eine lyrische Bedeutung haben. Was all diese Parameter aber effektiv schaffen ist eine Art von Musik, in der das immense gesangliche Talent dieser Künstlerin zu jedem Zeitpunkt im Mittelpunkt steht und auf mannigfaltige Arten und Weisen zum strahlen kommt. Sei das in den beeindruckenden Vibrato-Parts in Sir Etok, in den abgefahrenen Whistle Notes im Titelsong, die ein bisschen wie das Pfeifen von Delfinen klingen oder im sehr operatischen Gesang von Angelus Novus, das sich für mich fast schon wieder traditionell europäisch anhört. Ein effekthascherisches Album ist Aura dabei nie, was sich letztlich auch sehr gut dadurch zeigt, wie geduldig und ruhig es in seinem gesamten Pacing ist, was für mich aber ebenfalls zu seinem Vorteil funktioniert. Denn sobald man nach ein paar Hördurchgängen nicht mehr den Überraschungseffekt von Hatis Noits stimmlicher Leistung hat, funktioniert die Platte trotzdem weiterhin richtig gut als ambient-entrücktes Moodpiece, das mich durch seine Atmosphärik auch noch deutlich weiterträgt. Und das ist dann wirklich eine Sache, die bei vielen ähnlichen Projekten deutlich schlechter funktioniert. Zwar muss ich den Langzeiteffekt auch hier erstmal noch ein bisschen abwarten und zu früh freuen will ich mich nicht, doch könnte es tatsächlich sein, das in dieser LP eine der spannenderen Experimentalplatten der laufenden Saison steckt. Und wenn das keine gute Nachricht für die Welt des A Capella ist, dann weiß ich auch nicht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11


Persönliche Höhepunkte
Aura | Thor | Himbrini | A Caso | Angelus Novus | Inori

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Julianna Barwick
Healing is A Miracle

Björk
Médulla


1000kilosonar bei last.fm  

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