Dienstag, 19. Juli 2022

Wenn es nicht hart ist, ist es nicht das Projekt

MOOR MOTHER
Jazz Codes
Anti- | Epitaph
2022
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ abstrakt | zerfließend | kunstig ]
 
Es war schon eine ziemliche Offenbarung, als ich im Januar letzten Jahres, ein paar Wochen nach Release und damit nur ganz knapp zu spät für die Bestenliste 2020, das großartige Album Brass von Billy Woods und Moor Mother entdeckte. Ein auf den Punkt formuliertes abstrakes Hiphop-Projekt mit reichlich Einschlägen aus sehr experimentellen Bereichen kunstiger Avantgarde-Musik, das in seiner einzigartigen Formfreiheit eine herrliche Kreativität fand. Und wo dabei auf der einen Seite der Rapper Billy Woods stand, aus dessen Oeuvre ich schon zahlreiche Arbeiten dieser Art gewohnt war (wenngleich auch selten so treffsicher), gab es auf der anderen mit der Künstlerin Moor Mother eine spannende Neuentdeckung für mich, die von sich aus jede Menge zu versprechen schien. Was mich folglich dazu brachte, in den anderthalb Jahren seitdem ihren Output mit wachsender Neugier zu verfolgen und auf mehr von dem kreativen Spirit zu hoffen, den sie auf Brass so überfließend zeigte. Wobei ich bisher leider sagen muss, dass diese Suche wenig von Erfolg gesegnet war. Ihr bisher einziges Album seit besagter Kollaboration mit Woods, Black Encyclopedia of the Air vom letzten Herbst, empfand ich eher als sehr gewöhnliches abstrakes Hiphop-Album mit wenig Überzeugungsfaktor, von dem ich schlicht gesagt ein bisschen enttäuscht war. Und obwohl ich auch ob diesem Nachfolger zuletzt sehr skeptisch war und es eine Weile brauchte, um mich für diesen Sound zu erwärmen: Ihre neue LP Jazz Codes ist eine, die mit ähnlichen Mitteln wie ihr Vorgänger ein wesentlich besseres Ergebnis erzielt. Oder zumindest eines, mit dem ich mich eine ganze Ecke besser identifizieren kann. Anscheinend mehr oder weniger als Counterpart zu Black Encyclopedia gedacht, ist das hier ein ähnlich verträumtes und vibiges Stück Musik, das den hartkantigen Avantgardismus, den ich an Moor Mother anfangs so mochte, eher durch einen chilligen Jazzrap- und manchmal sogar R'n'B-Einflüsse austauscht. Im Gegensatz zum Vorgänger, wo dieser Schritt manchmal sehr substanz- und ideenlos wirkte, ist die klangliche Entschleunigung hier jedoch eine wesentlich bewusstere und geht mit einer Abstraktion einher, die sie an vielen Stellen erträglicher macht. Der softe ästhetische Grip wirkt auf Jazz Codes seltener belanglos, sondern eher entrückt und findet an einigen Stellen mit cleverer Effekthascherei und kunstig gemachten Interludes einen echt starken Charakter. Wie bereits im Titel angedeutet, ist Jazz ein wesentlicher Fokus dieses Albums, weshalb man den Einfluss experimenteller und spiritueller Jazzmusik überall auf dieser Platte spürt. Und wo viele sich ästhetisch dabei sehr an Alice Coltrane erinnert zu fühlen scheinen, sehe ich in nicht wenigen Songs vor allem Parallelen zu den mystischen Soundscapes eines Shabaka Hutchings oder den biografischen Collagen einer Matana Roberts, die ich gleichermaßen schätze. Hiphop findet dabei natürlich immer noch viel statt, spielt aber wie so oft bei Moor Mother eher eine herausragende Nebenrolle und bleibt in jedem Moment relativ abstrakt und verfremdet. Vieles davon ist auch der sehr offenen und freiförmigen Struktur geschuldet, die statt klassischer Strophen eher längere Textvignetten zwischen nebulösen Instrumentalpassagen unterstützt, die gerade im Kontext mit der klanglichen Ausrichtung vieler Songs aber echt gut hinhauen. Ganz zu schweigen davon, dass in so gut wie jedem Song Gäste auftreten, die auf dieser LP ebenfalls sehr viel Platz nehmen. Und so sehr ich anfangs auch mit ebendiesem künstlerischen Entwurf fremdelte, weil er eben nicht die brutale und ästhetisch extreme Moor Mother zeigte, die ich zu hören gehofft hatte, beginne ich ihn doch langsam auch als sehr exemplarisch für diese Künstlerin zu verstehen. Denn dass sie sich in ihrem Material nicht auf eine Stilistik beschränkt, war und ist ja irgendwie das beste an ihr. Und das heißt dann eben auch, dass es nicht immer das gleiche Crossover-Modell und nicht immer die gleiche Ästhetik sein muss, die sie für ihre Musik gerade interessant findet. Was dann wiederum bedeutet, dass ein Album wie dieses nicht gleich langweilig oder gewöhnlich ist, nur weil es softer klingt. Und mit einem Nachfolger wie diesem hat Moor Mother jetzt nicht nur gezeigt, dass diese Art von Ästhetik bei ihr auch in spannend geht, sie hat mein Ohr auch für weitere klangliche Exkurse geöffnet, die vielleicht in Zukunft noch stattfinden. Black Encyclopedia of the Air schließt das leider nach wie vor nicht ein, aber es können eben auch nicht alle Experimente gleich aufgehen. Umso schöner, dass wir hier auch noch die schöne Seite davon kennenlernen dürfen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
Golden Lady | Joe McPhee Nation Time Intro | Meditation Fog | So Sweet Amina | Rap Jasm | Arms Save | Real Trill Hours | Evening | Barely Woke

Nicht mein Fall
Blues Away


Hat was von
Shabaka & the Ancestors
We Are Sent Here By History

Matana Roberts
Coin Coin Chapter III: River Run Thee


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