Freitag, 15. Juli 2022

Ethiofuturismus

KIBROM BIRHANE
Here & There
Flying Carpet
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ spirituell | folkloristisch | ätherisch ]

Es ist gut, dass ich einen Musiker wie Kibrom Birhane, dessen Herangehensweise an modernen Jazz augenscheinlich eine überaus progressive und tief in den Traditionen von Spiritual- und Afrojazz verstrickte ist, erst jetzt kennenlerne, wo über diese ganzen Sachen zumindest ein bisschen bescheid weiß. Denn wäre ich über ein Album wie Here & There vor zwei oder drei Jahren gestolpert, hätte ich zwar sicherlich auch schon ganz gut gefunden, doch sicherlich nicht die Fäden erkannt, die sich von hier aus durch diverse Punkte in der jüngeren Geschichte des Jazz ziehen (besonders des afrikanischen) und wäre ob diesem Defizit nicht in der Lage gewesen, viel über diesen Musiker zu sagen. Aus heutiger Perspektive jedoch kann ich das zum Glück zumindest ein bisschen und erkenne deshalb auch einigermaßen die Bedeutung, die sein Schaffen für die kontemporären Strömungen seiner Bubble hat. Wobei ich es bei einem so relativ unbekannten Namen wie dem seinen hier doch für sinnvoll halte, ein bisschen beim Urschleim anzufangen: Kibrom Birhane ist ein US-amerikanischer Jazz-Pianist mit aktueller Residenz in Los Angeles, wo er unter anderem in Bands mit Kamasi Washington, Dexter Story und De-Clive Lowe musiziert, mit der lokalen Szeneprominenz also mehr oder weniger gut verzahnt ist. Mehr als die meisten anderen seines Schlags konzentriert Birhane sich seinem Schaffen jedoch auf die klanglichen Einflüsse seines Herkunftslandes Äthiopien und fusioniert dabei einen lokal gefärbten spirituellen Stil zurecht, der sehr in der Tradition des Afrofuturismus von Sun Ra, aber auch in direkten Pop- und Folk-Farbtupfern äthiopischer Musik geprägt ist. So zumindest die Theorie. In der Praxis sieht das dann häufig so aus, dass Birhanes Musik stilistisch sehr nahe am Output von Leuten wie Shabaka Hutchings, Christian Scott aTunde Adjuah oder eben Kamasi Washington stattfindet, die ja eh gerade sehr gut dabei sind, eine Art neue panafrikanische Jazz-Ästhetik zu erschaffen, die ich auch schon lange ziemlich interessant finde. Und Here & There ist in der Fortführung derselben ein weiterer nicht zu unterschätzender Baustein. Nicht nur deshalb, weil es ein richtig starkes Album ist, das sicherlich für ein bisschen Aufmerksamkeit in der Szene sorgen wird, sondern vor allem auch, weil es mit Einflüssen aus äthiopischer Musik eben auch eine der aus heutiger Sicht relevantesten Popmusik-Nischen des afrikanischen Kontinents repräsentiert, in der schon in der Vergangenheit viel spannendes passierte, mit dem dieses Album nun spielen kann. Wobei Here & There damit zum Glück auch alles andere als zimperlich ist und viele tolle Sachen ausprobiert: Gemeinsam mit einer achtköpfigen Band formt er hier in 70 Minuten ein wahnsinnig kreatives Füllhorn an sehr farbenfroher und vielseitiger Jazzmusik, die an nicht wenigen Stellen auch durchaus in den Definitionsbereich des Jazz-Fusion abdriftet. Da gibt es in Mender starke Versatzstücke aus Reggae und Dub, Maleda trägt den imposanten Glamour eines Kamasi Washington mit sich, Enate ist zum Teil fast rockig unterwegs und der Quasi-Titeltrack Ethiopia klingt vor allem in seinen letzten Minuten wie eine von Birhane eigens gepitchte Jazz-Hymne an sein Heimatland, die auch am meisten von allen Tracks ein bisschen emotional wird. Wobei es auch hier ein weiteres Mal völlig außer Frage steht, dass es vor allem Musiker*innen seines Schlages sind, die Jazz momentan wieder zu einem wahnsinnig interessanten und innovativen Genre machen, das zum ersten Mal seit sieben oder acht Dekaden auch wieder einen gewissen emanzipatorischen Charakter mitbringt. Und wenn dieser so gut klingt wie hier, habe ich gleich doppelt Freude daran.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11


Persönliche Höhepunkte
Merkato | Weleta | Ethiopia | Mender | Digis | Maleda | Pendulum | Tinish Tinish | Circles | Abetu

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Kamasi Washington
the Epic

Shabaka & the Ancestors
We Are Sent Here By History


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