Samstag, 23. Juli 2022

Meister der Verwandlung

Paolo Nutini - Last Night in the Bittersweet
PAOLO NUTINI
Last Night in Bittersweet
Atlantic
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ retro | unberechenbar | vielschichtig ]

Eigentlich sollte sich ein Musikhörer meines Alters nicht für einen Künstler wie Paolo Nutini interessieren, zumindest nicht für dessen neueren Output. Denn nicht nur fühlt er sich an diesem Punkt seiner Karriere ziemlich definitiv an wie ein weirdes Relikt der Zwotausender, es ist auch gar nicht mal so einfach, dieser Tage noch ein aktives Interesse an ihm zu entwickeln. Ganz einfach deshalb, weil er sich in der Musiklandschaft der letzten zehn bis fünfzehn Jahre verdammt rar gemacht hat. Last Night in the Bittersweet, sein insgesamt gerade Mal viertes richtiges Album, ist sein erstes seit 2014 und selbst wenn ich an diesem Punkt noch irgendeine Erinnerung an seinen früheren Output hätte, wäre diese inzwischen so diffus, dass es eigentlich keinen Unterschied machen würde, ob man diesen nun kenn oder nicht. Paolo Nutini 2022 zum ersten Mal zu hören, wirft bei mir trotzdem erstmal jede Menge Fragen auf: Wo verdammt nochmal kommt dieser Typ her und warum ist er überhaupt so eine schwergewichtige Marke? Hat der immer schon solche Musik gemacht oder ist dieses Retro-Springsteen-Heartland-Ding etwas, das er erst mit diesem Album in sein Oeuvre aufnimmt? Was ist das für ein Dialekt, in dem er ab und zu singt und warum macht er es nur manchmal? Und vor allem: Warum zum Teufel ist das hier so viel besser, als ich zu hoffen gewagt hatte? Die Antwort darauf ist eigentlich recht schnell gefunden und auch gar nicht mal so kompliziert: Weil diese Platte voller Überraschungen steckt und Paolo Nutini nicht nur jemand ist, der stilistisch viele verschiedene Tricks drauf hat, sondern auch jemand, der das alles so ineinander verbauen kann, dass er gleichzeitig kohärent und unberechenbar wirkt. Wobei in dieser Hinsicht schon der Opener Afterneath die größte Bombe des Albums sein dürfte, welcher das Geschehen hier mit einem stampfenden Krautrock-Jam inklusive psyschedelischer Spoken Word-Einschläge und Robert Plant-Gedächnis-Urgeschrei eröffnet, die garantiert nicht zum üblichen Stil des Briten gehören. Und obwohl die LP direkt danach gleich wieder deutlich zahmer wird und auch an keinem Punkt der 72 Minuten nochmal auf dieses Energielevel zurückkehrt, wird es danach in keinster Weise langweilig. Ganz einfach deshalb, weil es in fast jedem Song ein neues Element oder eine spannende Facette gibt, die man so vorher nicht erwartet hätte. Mit Radio folgt gleich als zweiter Song zum Beispiel eine Ballade (die seltsamerweise kein bisschen deplatziert wirkt), Lose It springt kurze Zeit später mit einer gekonnten Bobby Gillespie-Impression wieder zurück ins psychedelische, Petrified in Love klingt wie eine etwas grünohrigere Version von Frühsiebziger-Bands wie Badfinger oder Creedence (und ist damit einer der wenigen stilistisch eher fragwürdigen Songs) und Everywhere pendelt irgendwo zwischen klassischem Soul der Marke Charles Bradley und einer Folkballade aus den Sechzigern. Und da reden wir gerade mal über die erste Hälfte dieses Albums. Sicher, nicht jeder der insgesamt 16 Tracks auf Bittersweet ist so gut wie die besten Momente hier und mehr als gut klauen kann Nutini häufig nicht, doch ist dafür die Trefferquote an fantastischen Songs und Motiven erstaunlich hoch. Kaum einem Titel hier muss man vorwerfen, nicht bis in seine letzten Fasern ausgefeilt zu sein und nicht selten gehen Stücke in ihren vier bis fünf Minuten Spielzeit gleich in mehrere, äußerst interessante Richtungen. Weshalb das hier eines der wenigen tollen Alben der letzten paar Wochen ist, auf denen ich vielleicht nicht unbedingt jeden Song mag und die auch eigentlich zu viel verschiedenes auf einmal machen, bei denen aber die Schnittmenge an guten Momenten so hoch ist, dass ich einfach jede Menge Respekt davor bekomme. Und letztlich auch ein bisschen verstehe, warum dieser Typ regelmäßig so lange braucht, um neue Musik fertigzustellen. Weshalb ich es am Ende des Tages jetzt auch schon ein bisschen schade finde, vorher kein Fan von Paolo Nutini gewesen zu sein. Denn man stelle sich nur mal vor, acht Jahre auf eine Platte wie diese hier zu waren, die dann tatsächlich so viel ultimative Genugtuung mitbringt und sich wie ein verdienter Triumph anfühlt. Aber egal on Fan oder nicht, genießen kann man es ja am Ende auch so. Und nichts anderes mache ich im Endeffekt gerade.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
Afterneath | Radio | Through the Echoes | Acid Eyes | Stranded Words | Lose It | Everywhere | Children of the Stars | Shine A Light | Julianne | Take Me Take Mine

Nicht mein Fall
Petrified in Love


Hat was von
the Baby Universal
Slow Shelter

Bleachers
Take the Sadness Out of Saturday Night


1000kilosonar bei last.fm  

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