Freitag, 26. Oktober 2018

Im Dienste der Skepsis





















Ziemlich genau zwei Jahre ist es her, dass eine junge Band namens Karies bei mir zur großen Hoffnung der deutschsprachigen Postpunk-Bewegung wurde. Die Gruppe stammte aus derselben berühmt-berüchtigten Stuttgarter Zelle, die uns in den Jahren zuvor schon großartige Acts wie Die Nerven und Human Abfall beschert hatte und sich mit ihrem zweiten Longplayer Es geht sich aus anschickte, nun selbst eine der wichtigsten Kräfte dieses Movements zu werden. Und zum damaligen Zeitpunkt war das absolut keine Frage: Besagte Platte war eines meiner persönlichen Highlights der Saison, Songs wie Keine Zeit für Zärtlichkeit oder Es wird ein Fest liefen bei mir in Dauerschleife und weil es von vielen anderen Szene-Bands zu dem Zeitpunkt gerade nichts besseres gab, kannte mein kleiner Hype um Karies eine Weile keine Grenzen. Allerdings ist das alles schon zwei Jahre her. Geht man vom jetzigen Zeitpunkt aus, ist meine Liebe für sie schon deutlich verhaltener geworden. Wenn ich Es geht sich aus heute höre, so muss ich doch feststellen, dass einige Passagen vielleicht doch nicht ganz so clever sind, wie ich sie damals fand, die Texte durchaus ein bisschen stumpf wirken und die LP sich insgesamt schon einem relativ klassischen Standard hingibt. Sie ist nach wie vor gut, aber die zehn Punkte in der Besprechung und einen neunten Platz in der Jahresbestenliste würde sie inzwischen sicher nicht mehr bekommen. Was nicht zuletzt auch dazu führt, dass ich ihrem neuen Output nun mit einer gesunden Skepsis entgegenkomme. Als vor einigen Monaten Alice angekündigt wurde, habe ich mich definitiv gefreut, war aber auch vorsichtig: Auf keinen Fall würden Karies diesmal mit noch so einem Album wie Es geht sich aus durchkommen, zumal sich auch um sie herum sehr viel verändert hat. Um die Stuttgarter Zelle, 2016 noch ein großes Thema, ist es mittlerweile ziemlich still geworden, lediglich die nimmermüden Nerven haben sich aus der Szene erfolgreich herausemanzpiert und sind zu einem internationalen Pop-Phänomen aufgestiegen. Mit stupidem Fehlfarben-Postpunk wäre diesmal also sicher kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Und glücklicherweise denken auch Karies diesmal so. Alice geht in wesentlichen musikalischen Schritten nunmehr einen eigenen Weg, der insgesamt wesentlich kompromissbereiter, sanfter und ebenfalls Pop-orientierter ist. Die kantigen Bass-Bretter des Vorgängers haben sich hier in intelligente New Wave-Tracks verwandelt, die auch vor Genre-fremden Stilmitteln wie Shoegaze-Gitarren, Plucker-Synths, Ambient-Passagen und Autotune nicht zurückschrecken. Damit gehen sie zwar auch einen ähnlichen Weg wie die Nerven auf ihrer neuen LP, doch bleiben auch ihren eigenen Talenten treu. So ist hier nach wie vor das exzellente Bassspiel einer der Hingucker der Platte, Benjamin Schröters Punchline-Texte sind unverkennbar und das versteckte Faible für Funk-Gitarren wird hier sogar noch offensichtlicher. Und im großen und ganzen führt das auch wieder mal zu einer LP, die mich zu überzeugen versteht. Die neuen kreativen Impulse funktionieren, das Songwriting ist stark und mit Stücken wie Pebbo, Holly oder 1987 sind durchaus ein paar Hits dabei. Wobei es auch definitiv falsch wäre, Alice deshalb ausnahmslos über den grünen Klee zu loben. Denn genauso gibt es hier auch viele Momente, die ein bisschen unentschlossen und awkward wirken. Zum Beispiel der Song Projekt Aufgabe, in dem die eckig-kafkesken Dada-Lyrics von Schröter schon ziemlich bemüht wirken oder Altar, das eiskalt die Bassline von Keine Zeit für Zärtlichkeit vom letzten Album recyclet. Mit gerade mal 36 Minuten Spieldauer und jeder Menge Füller-Cuts ist die LP außerdem kein wirklich gewissenhafter Nachfolger, sondern eher eine Art Vorschub, um neues Material zu präsentieren, das Karies als progressive Band zeigt. Im Endeffekt ist Alice also ein Album, das zwar im Ansatz zeigt, was stilistische Weiterentwicklung für die Stuttgarter heißt und das auch ziemlich beeindruckend durchführt, das aber in Kleinigkeiten noch immer irgendwo in der Zwischendimension festhängt und eher sowas wie eine Alibi-Funktion einnimmt. Hätte die Band noch ein halbes Jahr gewartet und dafür noch etwas an den Stücken gefeilt, wäre unter Umständen wieder ein Longplayer vom Format eines Es geht sich aus rausgekommen. So kriegen wir eine nette neue Platte, die aber auch hinter dem eigentlichen Potenzial ihrer Musiker zurückbleibt. Oder wie man in Baden-Württemberg sagen würde: Es geht sich nicht aus.






Persönliche Highlights: Holly / Pebbo / Nebenstraßen / 1987 / Ansichten

Nicht mein Fall: Projekt Aufgabe / Altar

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