Montag, 26. Oktober 2015

Von Montreal nach Tokio

ESMERINE
Lost Voices

Constellation
2015
















Godspeed You! Black Emperor gut zu finden, ist eine Sache, doch die in den letzten Jahren ungemein ansteigenede Zahl von Nebenprojekten der Kanadier birgt ebenfalls den ein oder anderen Schatz. Nicht nur mit Thee Silver Mt. Zion und Hrsta haben die Postrocker künstlerisch wertvolle Spin-Offs produziert, auch Soloprojekte von Efrim Menuck und Sarah Neufeld sind es wert, verfolgt zu werden. Ein schon länger existierender Zuwachs sind Esmerine, eine Kollaboration von Constellation-Mitgliedern, die die Liebe zur volkstümlichen Musik des Orients, insbesondere der Türkei, verbindet. Ihr Debüt If Only A Sweet Surrender to the Nights to Come Be True veröffentlichte die Band bereits 2003, doch erst das zehn Jahre später erschienene Dalmak brachte das Projekt in größeren öffentlichen Fokus, als es den Juno-Award für das beste Instrumental-Album abräumte. Ich persönlich hatte mit dieser Platte einige Vorbehalte, doch fand darin viele interessante Ansätze. Genügend, um mich mit Lost Voices genauer zu beschäftigen. Und tatsächlich gibt es hier einige signifikante Änderungen. Ihr Faible für orientale Musik haben die Kanadier nun auch nach Mittel- und Ostasien ausgeweitet und bedienen sich nun an einem Kulturgut, das von Istanbul bis Tokyo reicht. Dazu gibt es auch immer noch die typischen Constellation-Harmonien, die man bei Godspeed You! Black Emperor im Vorschulkurs lernt. Was deren Hang zu epochelen Song-Konstrukten und Überlänge angeht, sind Esmerine eher zurückhaltend. Kompositorisch bewegt sich hier alles in einem angemessenen Rahmen und über acht Minuten passiert auf diesem Album gar nichts. Bei diesem Songwriting ist das aber auch nicht weiter schlimm. Mit einer enormen Vielfalt an exotischem Instrumentarium beeindruckt die Band hier auch, wenn sie keinen Lärm macht. In den besten Momenten muss man dabei an Bilder aus Naturdokumentationen über die Mongolei oder Memories of A Geisha denken. Überhaupt sind diese 45 Minuten wie geschaffen für einen Soundtrack, was man von vielen Constellation-Releases sonst nicht wirklich sagen kann. Blöd wird es nur manchmal dann, wenn Esmerine doch die E-Gitarren rausholen und in bester Godspeed-Manier apokalyptisch losmetern müssen. In 19/14 geht es nochmal glimpflich aus, doch A River Runs Through This City zerstört einen Großteil der Atmosphäre, die die Platte bis dahin so mühevoll aufgebaut hatte. Das sind natürlich grobe Schnitzer, auf die diese Musiker sonst eigentlich besser achten. Von Postrock ist auf diesem Album indes wenig zu hören, Esmerine lassen sich hier noch mehr als auf den Vorgängern von den Klängen der Ferne treiben. Von der offensichtlichen Connection sollte man sich also nicht in die Irre führen lassen. Das hier ist, wenn man so will, Folkrock (Ich vermeide bewusst den vollkommen dämlichen Begriff "Weltmusik"). Wer das jetzt Cultural Appropriation nennen will, bitte. Ich finde, dass Esmerine noch nie so gut waren wie hier. Und dass sie mit Lost Voices zum großen Player im Pool der Godspeed-Nebenprojekte werden. Hoffentlich nicht nur für mich.
9/11

Beste Songs: the Neighbourhoods Rise / 19/14 / Funambule (Deus Pas de Serein)

Nicht mein Fall: A River Runs Through This City

Weiterlesen:
Review zu Ütopiya? (Oiseaux-Tempête):
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Review zu Never Were the Way She Was (Colin Stetson & Sarah Neufeld):
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