Sonntag, 25. Oktober 2015

Retro-Review: Too Much is Never Enough

LED ZEPPELIN
Physical Graffiti

Swan Song
1975
















Denkt man an das Jahr 1975, denkt man nicht zwingend sofort an Led Zeppelin. Viel zu viel anderes trübt den Blick auf Physical Graffiti: Punkrock buddelte sich damals langsam den Weg in den Mainstream durch, Pink Floyd waren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, Bob Dylan tauchte mit Blood On the Tracks wieder ganz oben auf. Und auch beim hören des Albums fällt auf, dass die Hardrock-Helden sechs Jahre nach ihrem Debüt ihr Zenit bereits überschritten hatten. Zwar führten sie ein Rockstarleben sondersgleichen und auch kommerziell lief es nicht wirklich schlecht, doch künstlerisch ist Physical Graffiti ein erster leichter Knick in der makellosen Oberfläche des Mythos Led Zeppelin. Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung gab es als coolere Sachen, als diese Band zu hören. Und dabei sprechen wir hier von vielleicht ambitioniertesten Werk, das die Briten jemals veröffentlichten. Ein Doppelalbum, gut eineinhalb Stunden lang und mit Songwriting-Spitzen, die überraschend progressiv anmuten. Im Gegensatz zum groovenden Sound der Frühphase und zum esoterischen Houses of the Holy klingt diese Scheibe sehr amerikanisch, spielt großzügig mit Country- und Blues-Elementen, die dank Bruce Springsteen und Creedence Clearwater Revival Mitte der Siebziger gerade schwer angesagt sind. An sich ist das nicht übel und am Ende ist auch kein Song hier ernsthaft bedenklich, doch Led Zeppelin sind nicht mehr so heftig wie noch vor wenigen Jahren und die kurz danach einsetzende Durststrecke kündigt sich hier immerhin durch ein leichtes Schwächeln an. Von Hits kann man bei den vielen fünf- bis elfminütigen Tracks kaum sprechen, einzig das epochale Kashmir strahlt über das ganze Album und wird in die Annalen der Rock-Historie eingehen. Daneben gibt es versteckte Sternstunden wie the Rover oder das stille, soulige Ten Years Gone, aber auch Grenzwertigkeiten wie den Creedence-Verschnitt Houses of the Holy oder das Chuck-Berry-Gedächnis-Piece Boogie With Stu. Und was bei einem so umfangreichen Hörerlebnis vor allem fehlt, ist die Überschaubarkeit. Wie vielen Künstlern nach ihnen hätte es auch Led Zeppelin besser getan, sich an eine LP zu halten. Im einheitlichen Mischmasch von Physical Graffiti gehen selbst Songs, die eigentlich richtig gut sind, bedauernswerterweise unter. Ein Mega-Riff jagt das nächste und die Band nudelt nach Leibeskräften, nur der Hörer kommt nicht mit. Eine Verschwendung an Talent kann man das schon nennen. Doch trotz aller kleinen Nörgeleien, die ich tätigen muss, befinde ich Physical Graffiti jedoch als das letzte wirklich große Ding der Briten. Dieses Album ist noch einmal ein Wetterleuchten an kreativen Geist, Rock-Pathos und Energie, bevor Led Zeppelin die Ideen ausgingen. Die Ironie, dass sie hier so viel gutes Pulver verschießen und ein Jahr später mit dem von der Geschichte als mittelmäßig eingestuften Presence dastehen, ist bitter. Doch ich sehe 1975 für diese Band nicht als den Anfang vom Ende, sondern das letzte großartige Aufbäumen der Dekadenz. Und ohne das wäre Rockmusik ja auch langweilig. Keiner weiß das so gut wie diese vier Herren.

Beste Songs: the Rover / In My Time of Dying / Ten Years Gone / the Wanton Song

Nicht mein Fall: Boogie With Stu

Weiterlesen:
Lieblingslieder-Review zu Good Times Bad Times (Led Zeppelin):
zum Review

Review zu Wish You Were Here (Pink Floyd):
zum Review

CWTE auf Facebook

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen