Sonntag, 4. Oktober 2015

Nichts überstürzen

GRAVEYARD
Innocence & Decadence

Nuclear Blast
2015
















Als ich anfing, diesen Blog zu schreiben, gab es gerade nichts cooleres in der europäischen Musikwelt als die Proto-Metal-Exporte aus dem Norden. Bands wie Vidunder, Horisont oder bedingt auch Kadavar, die einen Sound drauf hatten, der den der Siebziger-Pioniere wie Black Sabbath oder Pentagram perfekt nachstellte, waren überall begehrt und fast jede Woche tauchte eine neue klangliche Sensation aus Schweden, Norwegen oder Holland auf. Die Könige dieser Bewegung waren jedoch ohne Zweifel Graveyard aus Göteborg, die mit ihrem 2011 veröffentlichten Hisingen Blues ein echtes Opus Magnum abgeliefert hatten. Unter den psychedelischen Retro-Giganten der letzten Jahre hält es sich noch immer einen sicheren Platz mit einem der breitesten Analog-Sounds seit den Originalen und einem beständigen Groove, der sie unter allen Artverwandten einzigartig macht. Kurzum eine Erfolgsstory, die aber leider nur von kurzer Dauer war. Noch im überschwänglichen Freudentaumel des überraschenden Erfolgs gefangen, veröffentlichten Graveyard wenige Monate später ihren Nachfolger Lights Out, ein komplett blutleeres und verwaschenes Album, das nicht nur mich wenig beeindruckte. Eine herbe Enttäuschung, die langfristig auch meine Motivation, mich mit Proto-Metal weiter auseinanderzusetzen, entkräftete. Und die letzten Jahre lief es nicht gerade rosig für das Genre: Viele einst beeindruckende Künstler machen mittlerweile nur noch sehr mittelmäßige Musik oder haben sich mit überstürzten Major-Deals verrannt. Und von Graveyard? Stille. Seit dreieinhalb Jahren hatte es kein neues Album der Schweden gegeben bis im Frühjahr 2015 die Bestätigung zu Innocence & Decadence kam. Die Zeit, in der sich ein großes Publikum für sie interessiert, war derweil vorbei und gewartet habe ich auf diese Platte schon lange nicht mehr. Umso überraschter war ich festzustellen, wie gut sie letztendlich geworden ist. Es sieht ganz so aus, als hätten Graveyard aus ihrer Torschlusspanik mit Lights Out gelernt und sich hier die Zeit genommen, ein hochwertiges und eben kein schnelles Album zu machen. Innocence & Decadence besticht wieder mit einem breiten, rockigen Sound und dreckig gespielten Gitarren und verfügt wieder über diese Killer-Melodien und Joakim Nilssons markerschütternden Gesang, der auf dem Vorgänger einfach fehlte. Zusätzlich beeindruckt die Band hier mit einigen schmissigen Soul-Nummern wie Too Much is Not Enough oder Exit 97, die teilweise an Otis Redding oder Aretha Franklin erinnern und die ich hier gar nicht erwartet hatte. Überhaupt ist der Ideenreichtum hier sehr erfrischend, da er nicht nur auf Classic-Rock-Elemente baut. Neben Soul ist auch uriger Blues sowie Funk- und Punk-Einflüsse zu bestaunen. 2015 beweisen sich Graveyard damit als Künstler, die ich so kreativ, energisch und zeitgemäß gar nicht eingeschätzt hätte. Nach Jahren, in denen die Schweden für mich mehr oder weniger erledigt waren, bin ich jetzt wieder gespannt, wie es mit ihnen weitergeht und ob sie sich noch mal aufrappeln. Einen besseren Startpunkt als Innocence & Decadence kann ich mir dafür nicht vorstellen. Nur bloß nicht wieder übermütig werden.
8/11

Beste Songs: Exit 97 / Too Much is Not Enough / Cause & Defect / Far Too Long

Nicht mein Fall: -

Weiterlesen:
Review zu II (Spiedergawd):
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Review zu Berlin (Kadavar):
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