Mittwoch, 5. August 2020

Raw Power


[ roh | rabiat | radikal ]

Man hört ja die Frage seit Jahr und Tag immer wieder, wer den eigentlich so die größten Pop-Ikonen der Welt gewesen wären, hätte es in der Geschichte des selbigen mehr Repräsentation für Frauen* gegeben, und auch ich selbst habe mich mit dieser Auseinandersetzung schon mehrfach konfroniert gesehen. Wobei eine meiner konsequentesten Antworten seit etlichen Jahren der Name Polly Jean Harvey ist, da sie für die gesamte Rockmusik der letzten drei Dekaden - also auch für viele Musik, die von Männern gemacht wurde - irgendwie eine alternativlose Gestalt geworden ist. Nicht nur, weil zu ihren frühen Fans Leute wie Kurt Cobain oder Nick Cave zählten, sondern auch, weil die Sängerin aus Dorset vor allem mit ihrem Neunziger-Output einen riesigen Haufen Musik beeinflusst hat. Großartige Künstler*innen wie Tegan & Sara, Anna Calvi, Cat Power und Fiona Apple, aber auch Jack White oder eben Nirvana sind entweder direkt oder indirekt von ihr beeinflusst und Platten wie Rid of Me oder To Bring You My Love bekommen in den letzten Jahren langsam aber sicher den Status heimlicher Klassiker. Wenn man mich fragt, dann steht Harvey 2020 mindestens in einer Reihe mit Leuten wie Elliott Smith oder Nick Cave und ist gerade in den letzten Jahren Patin eines ganzen Revivals geworden. Dabei muss ich aber auch ehrlich gestehen, dass ich von ihrer Musik selbst nicht der allergrößte Fan bin. Ich mag ihre Alben punktuell ganz gerne und ich verehre einzelne Stücke wie Let England Shake. Eine LP von ihr, die ich als persönlichen Favoriten ansehe, gab es aber bisher nicht. Zumindest nicht im offiziellen Kanon, denn wenn man diesen Mal ignoriert, hat sie bereits seit langem eines meiner absoluten Lieblingsalben gemacht, es nur nie offiziell veröffentlicht. Die Rede ist natürlich von den vorliegenden Demotapes zu Dry, ihrem gefeierten Debüt von 1992. Und dass ich die Platte überhaupt schon kenne, liegt lediglich an der magischen Welt des Filesharing. Lange Zeit ist es her, dass mir in irgendeinem ominösen Festplatten-Transfer auch mal ein Ordner mit dem frühen Katalog von PJ Harvey zugespielt wurde, die unter anderem diese Aufnahmen enthielt. Fälschlicherweise waren diese dort jedoch als das offizielle Album Dry ausgegeben, weshalb ich sehr lange dachte, dieses wäre das tatsächliche Debüt. Erst vor einigen Jahren, als ich die LP - die zu diesem Zeitpunkt bereits tief in meinem Herzen lag und die ich in- und auswendig kannte - nochmal auf einem Streamingportal anhörte, wurde mir der Etikettenschwindel bewusst. Gleichsam war die Enttäuschung groß, dass diese Platte, die ich so lange für einen persönlichen Favoriten gehalten hatte, dieser gar nicht war. Um ehrlich zu sein finde ich das, was aus den Tracks in ihrer fertigen Studioversion gemacht wurde, sogar als eine Abwertung des Materials. Zu viel gewollter Grunge-Krach und nachträglicher Hokuspokus versteckt dort die Kraft, die Harveys Songwriting schon ganz allein für sich hat und obwohl die LP trotzdem sehr kantig und rabiat ist, hat sie für mich eine Künstlichkeit, die diese Stücke nicht brauchen. Weshalb ich unendlich froh bin, dass vor ein paar Wochen die viel besseren Demos nun auch endlich offiziell erschienen sind. Zum einen weil ich sie mir dann vielleicht irgendwann nochmal richtig kaufen kann, zum anderen, damit ich jetzt darüber schreiben kann und allen erzähle, wie viel besser hier alles ist. Wobei 90 Prozent dieser Qualität die schonungslose Performance der Sängerin selbst ist. Bewunderung bekommt Dry ja von vielen Menschen aufgrund seiner Texte, die so herrlich ultrafeministisch und sexuell aggressiv sind. Und es ist nur logisch, dass diese gewaltige Attitüde in einer klareren, rudimentären musikalischen Ausrichtung besser zur Geltung kommt. Das beste Beispiel dafür ist mit Sicherheit Dress, in meinen Augen einer der gelungensten Songs über Sexismus und soziale Unterdrückung von Frauen, dessen Lyrics in der Studioversion allerdings komplett von der grauenvollen Produktion verschluckt werden. Hier hingegen ist das Ding ein schrammeliger, punkiger Protestsong, bei dem man richtig hört, wie viel Säure Harvey in ihrer Stimme hat. Die allermeisten Tracks hier bestehen tatsächlich auch aus nicht viel mehr als ihrem Gesang und wahlweise ein oder zwei Gitarren, lediglich in Plants & Rags hört man am Ende eine verhaltene Violine. Die Aufnahmequalität ist dabei für ein Demotape aus den frühen Neunzigern erstaunlich hochwertig und könnte ohne großes Zetern als mutwillige LoFi-Unternehmung durchgehen. Wobei der Witz ja der ist: Die "Produktion" hier ist so viel klarer als alles auf der offiziellen Variante (wo sie erstmals mit ihrem langjährigen musikalischen Partner Rob Ellis betreut wurde), bei der einfach nur alles drunter und drüber geht. Ich bin mir bewusst, dass einige gerade diese experimentelle Ästhetik mögen, weil es eben nicht nur ein weiteres Garagenrock-Album ist, mich jedoch schreckt das ganze eher ab. Vor allem eben im Vergleich zu der organischen Wärme und der intimen Persönlichkeit, die diese Aufnahmen haben. Wobei der Vorwurf eben nicht gilt, dass das hier bloß ein dahergelaufenens Garagenrock-Album ist, denn sie sind die Blaupause für so vieles, was später kam. Große Teile der Einflüsse, die ich am Anfang dieses Textes aufgezählt habe, sind welche, die man hier direkt hört und auf der offiziellen Platte meistens nur erahnen kann. Und auch wenn ein bisschen von meiner Präferenz ganz sicher damit zu tun hat, dass ich diese Version des Albums wesentlich besser kenne, würde ich doch nicht sagen, dass das als Ausrede zählt. Gerade jetzt, als ich für diesen Artikel noch einmal den direkten Vergleich gemacht habe, fällt mir wieder auf, wie himmelweit der Unterschied zwischen diesen beiden Aufnahmen für mich ist. Wobei der Umstand, dass Künstler*innen ihre Songs manchmal verhunzen, wenn sie damit ins Studio gehen, ja auch nichts wirklich neues ist. Und hier haben wir eben einen der Fälle, in denen so eine Urversion zu einem meiner absoluten Lieblingsalben geworden ist, für das ich natürlich meine unbedingte Empfehlung aussprechen muss. Zumal ich das jetzt auch offiziell kann und nicht auf irgendein obskures Bootleg verweisen muss, dass in mieser MP3-Qualität auf Youtube kursiert (wobei die Nerd-Cred es schon wert war). Jetzt ist es ein richtiges Album. Und das passiert ja besser spät als nie.

P.S.: Achso, trotz der Punktzahl: Auf meiner Jahresendliste wird das hier natürlich nicht auftauchen, weil es gegenüber anderen Platten, die tatsächlich neu sind, einfach einen fiesen Vorsprung hätte und somit ganz automatisch meine Platte der Saison werden würde. Und das macht ja die Spannung kaputt. Am Ende auch für mich selber.



Hat was von
Patti Smith
Horses

the White Stripes
De Stijl

Persönliche Höhepunkte
Oh My Lover | O Stella | Dress | Victory | Happy & Bleeding | Sheela-Na-Gig | Plants & Rags | Fountain | Water

Nicht mein Fall
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