Dienstag, 8. November 2016

Die Kinderfresser von Stuttgart

KARIES
Es geht sich aus

This Charming Man / 2016















Als ich mich vor knapp drei Jahren dazu entschloss, keine ausführliche Besprechung zum Karies-Debüt Seid umschlungen, Millionen zu schreiben, war das, weil ich mir so dachte: Scheißegal, wozu gibt es denn die Nerven? Beide Bands kommen aus dem selben Umfeld der Stuttgarter Postpunk-Szene, haben den gleichen Drummer, haben beide schon Touren zusammen gespielt und der Laie hätte damals beide Gruppen beim ersten Mal sicherlich miteinander verwechseln. Doch seit dem Februar 2014 sind einige Jahre ins Land gegangen und so einfach ist das ganze nicht mehr. Die Nerven sind mittlerweile beim Edel-Indie Glitterhouse unter Vertrag, spielen in ganz Europa Konzerte und klangen auf ihrem letzten Longplayer Out darüber hinaus wie der lauwarme Furz ihrer heimatlichen Szene. Scheißegal, sage ich mir, wozu gibt es denn schließlich Karies? Die bisher immer als die kleinen Brüder der Nerven gehandelten Stuttgarter haben sich inzwischen auch ein ganzes Stück weiterentwickelt und die Zeiten des rumpeligen Hinterhof-Goth überwunden. Schon die erste Single des zweiten Albums Es geht sich aus mit dem Namen Keine Zeit für Zärtlichkeit glänzte diesen Sommer mit einer unglaublichen Bassline, genialen Texten und vor allem einer wesentlich cooleren Produktion als zuvor. Vom fertigen Produkt konnte man also einiges erwarten. Und ich bin froh zu sagen, dass diese Erwartungen hier mehr oder weniger übererfüllt wurden. Vor allem nämlich in der Hinsicht, dass man mittlerweile nicht mehr zwingend an die Nerven denken muss, wenn man Karies hört. Das Songwriting hier erinnert mit seinen scharfkantigen Gitarren und zackigen Brüchen zwar immer noch daran und ist an sich noch immer zutiefst in der Postpunk-Tradition verfangen, doch der groovige und sanfte Charakter der elf Tracks erinnert mitunter auch an Funk oder Postrock. Besonders hervorzuheben ist dabei das Bassspiel von Max Nosek, das hier unglaublich stark ist und in Songs wie Keine Zeit für Zärtlichkeit oder Ostalb sogar fast das Stück dominiert. Auch Sänger Benjamin Schröter zeigt, obwohl weniger charismatisch als ein Max Rieger oder Hendrik Otremba, eine beachtliche Bandbreite an morbider Dada-Poesie und muss dabei sogar nicht mal rumbrüllen, um sich auszudrücken. Überhaupt versteht er sich eher als beitragendes Instrument statt als Frontmann, da er nur wenige und eher unzusammenhängende Gedicht-Fetzen in die Songs einwirft, die sich auch ohne dick aufgetragene Inhaltliche Ebene selbst stützen können. Und letzteres ist etwas, bei dem Die Nerven das letzte Mal wirklich kläglich gescheitert sind. Es hier so wunderbar ausformuliert und clever zu hören, macht mich fast ein bisschen schadenfreudig. Aber das ist okay, denn Es geht sich aus ist so oder so eines der besten deutschsprachigen Alben dieses Jahres. So wie Fun damals genau zur richtigen Zeit da war, als Messer anfingen, komisch zu werden, sind Karies jetzt zur Stelle und halten die Fackel für Südwestdeutschland als Standort für qualitativ hochwertigen Postpunk auch 2016 sehr weit hoch. Und wenn die Szene so ihre Kinder frisst, schaue ich gerne mit dem Popcornbecher in gebührender Entfernung zu.
10/11

Beste Songs: Es ist ein Fest / A / Jugend / Keine Zeit für Zärtlichkeit / Ostalb / Frage Antwort / Es geht sich aus / Einheiten

Nicht mein Fall: -

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