Montag, 30. November 2015

Retro-Review: Die dunkle Seite

GORILLAZ
Demon Days

Parlophone
2005
















Dieses Review habe ich mir sehr lange aufgehoben und schon mehrmals die Möglichkeit ausgelassen, es zu schreiben. Der Grund dafür ist ziemlich simpel: Demon Days war vielleicht mein erstes richtiges Lieblingsalbum und steht bis heute hoch in meiner Gunst. Und wenn man zu so gut wie jedem Song persönliche, emotionale Bindungen hat, fällt es logischerweise schwer, eine kompakte, nüchterne Kritik darüber zu schreiben. Deshalb habe ich mich letztendlich auch dagegen entschieden, dies zu tun. Dieses Review wird also nun ein Track-By-Track-Lobgesang auf das Zweitwerk der coolsten nicht wirklich existenten Band auf Erden, unprofessionell hin oder her. Alte Liebe rostet eben nicht. Besonders nicht bei Gorillaz.

1. Intro
Es ist erstaunlich, wie viel schon dieser gerade Mal eine Minute dauernde Introtrack über das folgende Album aussagt. Nach dem hedonistischen Debüt klingt hier die pure Apokalypse an, in dem ein dissonantes Loop nach dem anderen und diverse schrille Field Recordings eine Kakophonie erzeugen, die durchaus abschreckend sein kann. Und die klarstellt: Mit Demon Days erforschen Gorillaz die dunkle Seite, wie auch immer diese in der nächsten knappen Stunde aussehen wird.

2. Last Living Souls
Ein dreckiger Post-Dub-Beat klackert feindselig, der Bass brummt und immer wieder hört man eine Zeile: "Are we the last living souls?" In den ersten Minuten klingt der "richtige" Opener der Platte nicht gerade nach einem Highlight, doch genau damit hat Damon Albarn gerechnet. Denn wenn sich nach gut drei Minuten ein paradiesisches Klaviermotiv aus dem tristen Geplucker perlt, ist der Moment perfekt. Dass diese Taktik auf späteren Alben perfektioniert wurde, kann man an Songs wie Empire Ants sehr gut hören, doch am besten funktioniert sie meiner Meinung nach immer noch hier.

3. Kids With Guns
Als ich Demon Days damals das erste Mal hörte, hatte Kids With Guns für mich die beste Bassline der Welt. Heute weiß ich, dass Albarn hier nur the Clash auf die Finger geschaut hat, was den Awesomeness-Faktor dieses Songs aber kaum mindert. Als Schnittmenge zwischen dem Sound des Debüts und dem der zweiten Platte gibt es aber noch mehr, was dieser Track zu bieten hat: Neben einem nicht minder großartigen Gitarrenmotiv und einem epischen Finale vor allem auch eine textliche Tiefe, die sich mit gewalttätigen Jugendlichen außeinandersetzt. Und vielleicht immer noch die coolste Bassline der Welt.

4. O Green World
Und da sind sie wieder, die komischen Loops aus dem Intro. Nur irgendwie cooler und mit dem noch besseren Nebeneffekt, dass ein Song danach kommt. Die Mischung aus Verschrobenheit und entfesselnder Melodik ist eines der Dinge, die ich an dieser Platte am meisten schätze. Und O Green World ist vielleicht der Track, wo dies am besten zur Geltung kommt. Und überhaupt: Wie kann man gleichzeitig so eingängig und so unvorhersehbar sein? Erst die sich langsam aufbauende Noise-Anarchie, dann ein perfekter Popsong und ehe man sich es versieht, ist das Hauptinstrument das Innere einer Standuhr. Dieses Stück ist ein Monster, aber eines, das man am liebsten den ganzen Tag streicheln würde.

5. Dirty Harry
Was Songs der Gorillaz furchtbar gut können ist, sich in sich selbst zu verstecken. Dirty Harry ist oberflächlich gesehen ein tanzbarer Club-Track mit einer fantastischen Stevie-Wonder-Hook, einem Kinderchor und schnittigen Handclap-Beats. Dass es dabei tatsächlich vordergründig um den Irakkrieg geht, möchte man dabei am liebsten beiseite lassen. So schwer wäre das auch nicht, wäre da nicht der ergreifende Schlusspart von Bootie Brown, der dem Song auf seinem Höhepunkt eine 180-Grad-Wendung verpasst und ihn dorthin zieht, wo es wehtut. Dass das ganze eigentlich etwas pietätlos ist, wird komplett davon kaschiert, wie faszinierend dieser Song wirkt.

6. Feel Good Inc.
Wird leider viel zu oft als das Clint Eastwood des zweiten Albums pauschalisiert, wo es doch vielleicht der beste Gorillaz-Song überhaupt ist. Die Symbiose zwischen Albarn und De La Soul ist sowieso das beste, was beiden Bands passieren konnte und die Dynamik zwischen Strophe und Refrain (obwohl von den Beatles geklaut) ist zum dahinschmelzen. Von einem der besten Videoclips aller Zeiten will ich gar nicht erst anfangen. Für mich ist mein erstes Mal Feel Good Inc. irgendwann auf MTV rückblickend so etwas wie die Entdeckung meiner musikalischen Identität. Tausend Dank dafür.

7. El Mañana
Demon Days ist ein Album der kreativen Anarchie, ein kunterbuntes Wunderwerk, das die Möglichkeiten der Popmusik feiert. Dass auf so einem Album auch Platz für eine ziemlich stinknormale Ballade ist, zeichnet es nur umso mehr aus. Die leisen Töne und schönen Wahrheiten waren schon bei Blur Damon Albarns Geheimwaffe, doch die Kontrastwirkung lässt sie auf den Platten der Gorillaz fast noch besser wirken. El Mañana ist dafür eines der besten Beispiele. Die unkomplizierte Gitarrenmelodie und der melancholische Refrain bringen Luft in ein Album, das zum Luftholen eigentlich keine Zeit hat. Zwischen den zwei Song-Giganten Feel Good Inc. und Every Planet We Reach is Dead kühlt es die Platte auf ein erträgliches Maß an Spannung herunter und zeigt, dass man dem Affen auch nicht immer Zucker geben muss, um ihn bei Laune zu halten.

8. Every Planet We Reach is Dead
Wieder so ein Song, den man nicht nur oberflächlich betrachten sollte. Mit einem imposanten Instrumentarium (Gitarre inklusive Ike Turner, Orgel, Chor, Akkordeon, Klavier und Streicher) und entsprechendem Dampfwalzen-Sound klingt Every Planet We Reach is Dead erstmal ziemlich nach Karneval, doch schon mit Albarns eröffnender Strophe schwimmt etwas Melancholie in den Track, die nicht so trügerisch ist: Je nach Interpretation - und die Debatten der Fans sind da ziemlich unerbittlich - handelt es sich hier um ein Stück über Trennungsschmerz oder das Ende der Welt. Und vor allem dank dieser Vielschichtigkeit ist dies hier einer der besten Gorillaz-Songs überhaupt. Obwohl ein bisschen Karneval auch dazugehört.

9. November Has Come
MF Doom als Gast auf seiner Platte zu haben, ist an sich schon etwas besonderes und es ist ein genialer Schachzug von Damon Albarn, dem MC hier für einen ganzen Song Platz einzuräumen. Ein simpler Synth-Beat begleitet den Track, der Bandchef selbst singt die Hook und den Rest darf der Masken-Rapper besorgen. Zu Recht, denn seine Zeilen sind pures HipHop-Gold und zeigen, warum Doom als einer der besten in seinem Fach gilt. Mit diesem Beitrag darf sich der Londoner mit Kano, Dan the Automator und selbstverständlich De La Soul um den besten Sprechgesangs-Part auf einem Gorillaz-Album streiten.

10. All Alone
Nach dem etwas lethargischen November Has Come nimmt die Platte mit einem unglaublichen Beat und einem weiteren großartigen Rap-Part von Roots Manuva noch einmal von vorne Fahrt auf und einfach alles an diesem Song ist genial: Die Mixtur von Live-Schlagzeug und elektronischen Patterns, Albarns gepitchter Gesang, Martina Topley-Birds sphärischer Bridge-Teil und allem voran die Energie, mit der hier das letzte Kapitel von Demon Days begonnen wird. Wäre am Ende vielleicht sogar ein formidabler Opener gewesen.

11. White Light
Definitiv der rockigste Song auf Demon Days und ein Deep Cut im besten Sinne. Gerade mal zwei Minuten lang besteht White Light gerade mal aus zwei Zeilen, die klingt, als wäre sie von einem Anrufbeantworter aufgenommen wurden, schmutzigen Noise-Gitarren und einem nicht minder auf Krawall gebürsteten Schlagzeug. Ein solcher Track wäre auf dem Debüt vielleicht nicht mal aufgefallen, hier jedoch rappelt er sich ebenfalls zu einem Highlight hoch. Einem sehr kurzen wohlgemerkt.

12. Dare
Wiederum überraschen Gorillaz mit der Auswahl und den Einsatzmöglichkeiten ihrer Stargäste. Jeder hätte sich beim Schreiben eines Songs wie Dare wahrscheinlich einen Pharell Williams-ähnlichen Sänger vorgstellt. Aber nein, der Alt-Britpopper Shaun Ryder gibt sich mit seiner sedimentierten Junkie-Stimme die Ehre. Kaum zu glauben, aber er macht das großartig. Neben Rosie Wilson als Noodle-Impersonatorin schafft er hier einen der tanzbarsten Hits der Band und nimmt dem Track die Politur, die ihn nervig gemacht hätte. Allerdings empfiehlt es sich nicht, auf etwaige Bühnenversionen des Stückes zurückzugreifen. Ryders Geschrei in der auf Demon Days Live erschienenen Interpretation ist ziemlich unerträglich.

13. Fire Coming Out of A Monkey's Head
Man kann es sich ungefähr so vorstellen, als hätte eine deutsche Band irgendwann einen Song mit Dirk Bach aufgenommen. Dennis Hopper, die sonore Radiostimme, die man hier hört, kennt man normalerweise von Winnie the Pooh-Hörbüchern, nur dass er hier ein handfestes Gruselmärchen zum besten gibt, unter dem ein gemächlicher Morricone-Beat läuft. Es ist Liebe auf den ersten Blick und ein Song, den wieder Mal nur diese Band hätte machen können. Und besser als jeder Lou Reed und Ibrahim Ferrer, den Albarn früher oder später noch eingeladen hat.

14. Don't Get Lost in Heaven
Der einzige Song auf diesem Album, der nicht total genial, ja sogar etwas mittelprächtig ist. Das Klaviermotiv ist nett, die Gitarre jault schön, die Stimmung kommt rüber. Trotzdem kann sich Don't Get Lost in Heaven von einem gewissen Kitsch-Faktor nicht freisprechen. Als Überleitung zum epischen Closer funktioniert das aber allemal.

15. Demon Days
Die Streicher sind noch aus dem letzten Song geblieben, ein Tambourin begleitet leise das Geschehen und schon von weitem deutet sich der Chor an. Danach beginnt Albarn im souligen Falsett die erste Strophe. Ein kurzer Moment der stille, bevor mit den ersten Gitarrentönen das große Finale des großen Albums beginnt. Selten haben Gorillaz einen Song wie diesen geschrieben und man bezweifelt, dass sie es nochmal so gut hinbekommen würden. Nach einer Platte, die so viel geboten hat ist Demon Days der perfekte Abschluss und hebt die ganze Geschichte noch einmal in eine ganz andere Ebene. Ein Track, der sonst nur sehr talentierten Postrock-Bands gelingt und als Bonus noch einen ganzen Chor am Start hat. Und spätestens jetzt will man auch nichts mehr von der dunklen Seite wissen, weil gerade alles so schön am Schweben ist. Runder könnte die Sache trotzdem nicht sein. Wenn die letzte Silbe des Refrains im Hall versinkt, bin zumindest ich mir noch immer sicher, hier ein absolut fantastisches Album gehört zu haben. Und das wird sich wahrscheinlich in diesem Leben nicht mehr ändern.

Beste Songs: O Green World / Dirty Harry / Feel Good Inc. / El Mañana / Every Planet We Reach is Dead / November Has Come / All Alone / White Light / Dare / Demon Days

Nicht mein Fall: Don't Get Lost in Heaven

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