Sonntag, 15. November 2015

Die rote Pille

ONEOHTRIX POINT NEVER
Garden of Delete

Warp
2015
















Ambient, Vaporwave, Plunderphonics, audiovisuelle Kunstinstallationen und jetzt Industrial. Daniel Lopatin, besser bekannt als Oneohtrix Point Never, ist kein Mensch, für den Vielfalt ein Fremdwort ist. Schon seit Jahren arbeitet der New Yorker sehr erfolgreich am Image des Post-Internet-Papstes, wobei vor allem sein schräger Humor dabei eine wichtige Rolle spielt. Als er vor fünf Jahren unter dem Pseudonym Chuck Pearson das von ihm selbst als "Müll" bezeichnete Album Ecco Jams veröffentlichte, erfand er mal eben ein ganzes Genre. Und auch die Idee hinter Garden of Delete stammt ganz eindeutig aus seiner Feder. In Interviews über die Platte gab der Künstler an, sie orientiere sich stark am Werk der völlig unbekannten Industrial-Rock-Band Kaoss Edge, von der online tatsächlich Material existierte. Was niemand wusste: Kaoss Edge waren niemand anderes als Lopatin selbst, der "deren" Musik zuvor vollständig komponiert und ins Netz gestellt hatte. Eine Finte, die weder zur Promotion noch zum Andenken an ein tatsächliches Vorbild gedacht ist. Sie zeigt nur, was für ein gewiefter Scherzkeks Oneohtrix Point Never ist. Und macht auch dieses neue Album wieder zu etwas besonderem. Obwohl es das auch an sich wäre. Denn die Art, wie hier die klassische Handschrift des Meisters mit aggressivem Industrial-Gemetzel vereint wird, dürfte für eine kleine Sensation reichen. Da macht einer der coolsten Künstler des Internets die uncoolste Musikrichtung, die es gerade gibt (oder wer findet 2015 bitte noch den Matrix-Soundtrack zeitgemäß?) und klingt dabei: total hip. Natürlich geschieht das auch durch die Einbindung anderer Stilrichtungen wie Ambient oder Vaporwave. Tatsächlich hat Lopatin sogar einen weiteren seiner Ecco Jams auf die Platte gepackt. Und weil er außerdem auf den gestelzten Ledermantel-Rave-Pathos des Genres verzichtet, gelingt ihm das hier sehr ansprechend. Garden of Delete nutzt Industrial nicht als Mittel zum Zweck, sondern entdeckt die Musik darin wieder, was meiner Kenntnis nach seit den Neunzigern keiner mehr so gut gemacht hat. Besonders gut kommt das dann auch in den etwas längeren Tracks wie Freaky Eyes oder Mutant Standard zur Geltung, in denen alle Variationen eines Beats durchgespielt werden können und man fast den Eindruck eines DJ-Sets erhält. Leider sind diese deutlich in der Unterzahl und werden teilweise mit Füllmaterial ausstaffiert, das meiner Meinung nach ziemlich sinnlos ist. Was aber zu jedem Zeitpunkt stimmt, sind Lopatins Sounds, die teilweise so vintage sind, dass man noch gar nicht weiß, wie cool man sie findet (bestes Beispiel sind die MIDI-Gitarren in Ezra.) Auf seine außergewöhnliche Art und Weise hat uns der Internet-Papst also wieder einmal ein erstaunliches Album verkauft. Und jetzt, wo Grimes zum Rockstar geworden ist, habe ich auch genau das gebraucht. Den digitalen Overkill, der einen dazu bringt, sich doch noch mal am ersten Teil von Myst zu versuchen und einen nachdenken lässt, ob der Matrix-Soundtrack nicht doch ganz okay war. Ansonsten wird es spätestens jetzt Zeit, wieder mal Pretty Hate Machine zu hören.
9/11

Beste Songs: Ezra / Sticky Drama / Mutant Standard / Child of Rage / No Good

Nicht mein Fall: ECCOJAMC1

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