Mittwoch, 1. Juni 2022

Es gibt viel zu erzählen

FLORENCE + THE MACHINE
Dance Fever
Polydor
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ lyrisch | schmerzhaft | biografisch ]

Es mag ja sein, dass die Zeiten lange vorbei sind, in denen Florence + the Machine eine Band waren, die wirklich für Hits verantwortlich war und dass es überhaupt mal so eine Zeit gab, ist ehrlich gesagt auch nicht unbedingt logisch. Doch geht man nach den musikalischen Parametern, die das britische Format um Florence Welch einst so beliebt machte, gab es eigentlich bisher keinen Punkt, an dem starke Singles und potenzielle Chartnummern aufhörten, prinzipiell zu existieren. Sie funktionierten nur nicht mehr ganz so gut wie früher. Denn zumindest meiner Auffassung nach sind Tracks wie Hunger, Ship to Wreck oder Light of Love durchaus in der gleichen Liga an erfolgsversprechender Songwriting-Technik anzusiedeln wie einst ein Shake It Out oder ein Heavy in Your Arms. Mit einem entscheidenenden Unterschied: Wo Welch in ihren früheren Songs meistens über eher abstrakte Empfindungen sang und ihre Musik höchstens eine diffuse und nicht wirklich nachvollziehbare Schwermut hatte, ist diese spätestens seit ihrem dritten Album How Big, How Blue, How Beautiful von 2015 sehr viel konkreter und biografischer geworden und damit auch definitiv härter zu verdauen. So ist der Großteil des Materials, das seitdem erschien, nicht nur emotional ein bisschen anspruchsvoller als die ersten beiden Platten, sondern nicht zuletzt auch lyrisch und inhaltlich. Und wenn man sich die Stories über Suchtproblematiken, toxische Affären und depressive Episoden anhört, über die darauf oft gesungen wird, nehme zumindest ich daraus auch immer einen ziemlich heftigen Kloß im Hals mit. Die Verwandlung zur Erzählkünstlerin mit Geschichtenhaften Seelenstriptease-Nummern hat Florence Welch in den vergangenen sieben Jahren dabei sehr bewusst vollzogen und ist als Autorin mit dieser Entscheidung auf jeden Fall gewachsen. Wobei sie mittlerweile auch langsam an dem Punkt zu sein scheint, an dem sie für die Umsetzung dieser Ideen eben nicht mehr zwingend einen Quotenhit braucht. Und sei er das auch nur potenziell. Oder zumindest ist ihr neuestes Album Dance Fever - auch wenn der Titel vielleicht anderes suggerieren mag - ihr erstes ohne Leadsingle mit eingängigem Zugfaktor und dafür eines mit noch stärkerem Fokus auf textfixierte, autobiografische Nummern mit Welch selbst im Zentrum. Wobei das in ihrem Fall auch nicht gleich heißt, dass sie hier auf das Niveau von Phil Elverum und Konsorten herabsteigt. Für eine Künstlerin wie sie, die immerhin für einige der stärksten Hooks der Zwotausendzehner verantwortlich ist, wäre das auch nicht weniger als kreativer Selbstmord. Und ein Pop-Album ist Dance Fever am Ende irgendwie trotzdem noch. Nur schaffen es Florence + the Machine hier, die eingängigen Momente verantwortungsvoller zu dosieren und auf der anderen Seite ein paar Passagen zu schaffen, die in etwas andere Richtungen gehen. Der Track mit dem weitaus größten Banger-Faktor dürfte dabei sicherlich My Love sein, der unter allen Songs auf einem Album dieses Namens als einziger das Prädikat der Tanzbarkeit erfüllt, aber auch Free mit seinem stampfenden Arcade Fire-Vibe oder das empowernde King haben durchaus das Zeug zu Fanfavoriten. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Sachen wie das fast schon countryeske the Bomb, das mich sehr an die letzten Sachen von Taylor Swift erinnert oder das rhythmisch-vertrackte Heaven is Here, die des öfteren Ästhetiken repräsentieren, die ich von Florence + the Machine so noch gar nicht gehört habe. Wobei ich es vor allem spannend finde (nicht immer gut, aber spannend), dass Welch stimmlich an manchen Stellen ebenfalls etwas rauher wird und performativ auch mal andere Sachen ausprobiert als das walkürische Soul-Timbre, mit dem sie hier aber auch weiterhin äußerst solide arbeitet. Am Ende sollte man in diesem Album allerdings auch nicht mehr neues sehen, als es ist. Die Veränderungen, die hier passieren, sind durchaus auffällig, allerdings auch eher deshalb, weil das Grundkonzept Florence + the Machine an diesem Punkt schon extrem etabliert ist und große Umstürze finden hier am Ende nicht statt. Für mich ordnet sich Dance Fever damit sehr gut in die musikalische Serie ein, die schon die letzten beiden Platten ziemlich stark aufbauten und ist in dieser Hinsicht auch mal wieder eine durchweg gute LP geworden. Wobei meine Frage nach der dritten Portion dieser Art von Songs auch ein bisschen ist, wie lange Welch darin inhaltlich noch die gleiche Stärke findet und ob ich der ganzen Sache irgendwann vielleicht doch mal überdrüssig bin. Ich denke früher oder später werden wir es erfahren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
Free | Chromeomania | Back in Town | Cassandra | Heaven is Here | My Love | the Bomb

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Arcade Fire
Neon Bible

Sharon van Etten
Are We There?


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