Montag, 13. Juni 2022

Pride Month 2022: Teil 2: Wir waren mal Stars

Gossip - Music for Men
PRIDE MONTH 2022
Teil 2:
GOSSIP
Music for Men
Columbia
2009
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ funky | rockig | eingängig ]
 
Als im Sommer 2009 Heavy Cross, die Leadsingle von Music for Men, ziemlich unverhofft und plötzlich auf Platz Zwei der deutschen Charts einstieg, mag das hierzulande erstmal so gewirkt haben, als wären Gossip über Nacht berühmt geworden. Und wenn man es mal auf ihre Karriere im deutschsprachigen Raum beschränkt, dann war das wahrscheinlich auch so. Tatsächlich war es im Verhältnis zum Rest der Welt gesehen aber eher mal wieder einer dieser häufigen Fälle, in denen das hiesige Publikum von der einigermaßen großen Sache, die diese Band bereits vorher für viele Leute war, einfach sehr spät mitbekam. Wobei besonders in Großbritannien, wo der Song Standing in the Way of Control 2006 durch die Serie Skins unverhofft zum Hit wurde, bereits zuvor wichtige Erfolge verzeichnet wurden. Als solches waren diese aber auch nur das Ergebnis jahrelanger Plackerei, die Gossip über viele Zwischenetappen und Trendbewegungen zu dem Erfolgsmodell machten, als das sie Ende der Nullerjahre zu Stars wurden. Wobei das coole an ihrer Erfolgsstory aus heutiger Perspektive ja ist, wie wenig sie für diesen kometenhaften Aufstieg ihre unsprünglich vereinbarten Ideale verraten mussten. Ideale, die im toxischen Showbiz-Umfeld der frühen Zwotausender eigentlich oft sehr wenig Platz hatten und die für die Verhältnisse ihrer Zeit extrem progressiv waren. Gegründet als explizit queere (Dance-)Punkband in Tradition der Riot-Grrrl-Bewegung ihrer Heimat Washington und mit Sängerin Ditto, die bereits in den Neunzigern als Fürsprecherin von Body Positivity und gelebtem Feminismus agierte, waren Gossip in ihren Anfängen ganz klar Bestandteil einer Form von Gegenkultur und damit definitiv kein Thema, das den Mainstream damals beschäftigte. Einer gute Vernetzung mit der damals schon immens bekannten Szene um Bands wie Le Tigre und Sleater-Kinney war es jedoch zu verdanken, dass Gossip über kurz oder lang immer mehr zu einem Gesprächsthema unter den Indiekids wurden, die ihnen einige Zeit später auch zum besagten Erfolgsmoment mit Standing in the Way of Control verhalfen. Dieser wiederum war anschließend dafür verantwortlich, dass vor allem Beth Ditto als Galleonsfigur des Projekts immer mehr zum coolen Vorzeigepromi wurde, die mit dem Who is Who der queeren Schickeria verkehrte und auch als Model und IT-Persönlichkeit immer gefragter wurde. Und als dann 2009 mit Music for Men das inzwischen vierte Gossip-Album in den Startlöchern stand, hatte das Trio nicht nur einen lukrativen Deal mit Columbia an Land gezogen, sondern auch jede Menge prominente Freund*innen, die sie zusätzlich pushten. Was aber hatte der Erfolg in der Zwischenzeit mit der Band selbst gemacht? Ehrlich gesagt nicht besonders viel. Denn obwohl Music for Men von niemand geringerem als Rick Rubin produziert wurde und in Sachen Sound auch definitiv softer und vor allem synthetischer auftritt als vorher, ist das hier doch kein Album ohne die nötigen Ecken und Kanten. Und dass hier auf der einen Seite jede Menge sehr eingängige Jams und Banger zu finden sind heißt eben auch nicht, dass diese Band nicht mehr garstig sein kann. Gleich im Opener Dimestore Diamond beispielsweise wird man von ihnen mit einer ziemlich klobigen Bassline und einem äußerst spärlich aufgestellten Rocksong begrüßt, der in seinen drei Minuten Laufzeit eigentlich nur noch an Bissigkeit zunimmt und textlich auf einem Zitat aus Femme Fatale von the Velvet Underground aufbaut. Nicht unbedingt der zugänglichste Opener, doch wie ich finde gerade deshalb der perfekte Start für eine Platte wie diese. Denn wo dieser in seiner ganzen Simplizität noch behutsam in Lauerstellung verbringt und seine Grooves auf niedriger Flamme köchelt, schiebt das nachfolgende Heavy Cross mich dann doch schon ganz ordentlich in Richtung Tanzfläche und wäre selbst ohne den immensen Wiedererkennungsfaktor, den es als größer Hit der Band nach wie vor hat, immer noch gigantisch. Ein optimal gestandener Anfang gelingt dem Album in meinen Augen also allemal. Und auch mit so ziemlich allem, was in den zehn darauffolgenden Tracks passiert, ist es sicherlich die größte Stärke der Platte, wie Gossip dieses einmal angezapfte Energielevel durchweg auf extrem hohem Niveau halten, ohne dabei langweilig oder chaotisch zu werden. 8th Wonder und Vertical Rhythm sind dabei massive Rockbretter mit der kantigen Attitüde des britischen Postpunk-Revivals, Pop Goes the World und Men in Love massive Dancepunk-Hymnen mit dem Spirit von LCD Soundsystem, Four Letter Word das kurze Synthpop-Moment zum Abkühlen kurz vor Schluss und Spare Me From the Mold am Ende nochmal das fette Riot-Grrrl-Ausrufezeichen, das die Band letztlich doch wieder in die Moshpits von Portland und Seattle katapultiert, in denen sie irgendwann angefangen hatten. Was ich dabei vor allem beachtlich finde sind trotz der sehr spärlichen kompositorischen Ausgestaltung (Gossip sind ein Trio und an vielen Stellen hört man das auch) viele der individuellen Performances der drei Mitglieder, die hier jede*r für sich absolut alles geben. Wobei die auffälligste darunter, über die auch damals schon immer alle redeten, natürlich Sängerin Beth Ditto ist. Sie ist als inhaltlicher Fokuspunkt und discowalkürische Leitfigur hier dafür verantwortlich, dass so gut wie jeder Song auf diesem Album über eine unfassbar griffige Hook verfügt und stimmlich an genau den richtigen Stellen vor sich hin gewittert. Und obwohl das ohne Frage beeindruckend ist und immens viel zum Erlebnis der LP beiträgt, waren es für mich eigentlich schon immer eher die beiden anderen Mitglieder der Band, die hier wirklich den Unterschied ausmachen und am meisten zum gelungenen Songwriting von Music for Men beitragen. Einerseits Gitarrist Brace Paine mit seinen messerscharfen Staccato-Riffs und extrem groovigen Basslines, die vor allem klanglich viel ausmachen, andererseits Drummerin Hannah Blilie, deren minimalistische Off-Beat-Patterns und rhythmische Präzisionsarbeit damals wie heute dafür verantwortlich sind, dass sie zu einer meiner absoluten Lieblingsschlagzeuger*innen aller Zeiten zählt. Dass Music for Men in allen Belangen durchweg rund läuft, kann ich am Ende aber trotz allem nicht behaupten und seitdem es vor 13 Jahren erschien, hat es in meinen Augen doch durchaus ein wenig an persönlicher Gunst meinerseits eingebüßt. Vor allem die für Rick Rubin-Verhältnisse überraschend offene und dadurch oft etwas leer klingende Produktion empfinde ich inzwischen als großen Nachteil der Platte, da sie mitunter viel von der starken Komposition vieler Tracks abgräbt und sie klanglich schwächer wirken lässt. Und auch wenn Beth Ditto als Sängerin ohne Frage eine Wucht ist, bleibt sie als Texterin doch eher durchschnittlich veranlagt und ruht sich in nicht wenigen Stücken doch sehr viel auf billigen Popkultur-Zitaten und lyrischen Plattitüden aus. Dass Music for Men grundsätzlich ein fetziges Album mit einem wunderbaren Flow ist, hat sich in den Jahren seitdem allerdings nicht geändert und noch immer emfinde ich es als grundsätzlich sehr gut gealtert. Vor allem eben in seiner Attitüde, mit der Gossip 2009 weit ihrer Zeit voraus waren und eine Repräsentation im Mainstream schufen, die damals wirklich neu und einzigartig war. Leider war Music for Men als solches aber auch ein bisschen der Anfang vom Ende dieser Band und ein Höhepunkt, den sie in ihrer langen Karriere sicherlich nicht nochmal erreichen würden. Nachdem 2012 mit A Joyful Noise nochmal ein (bis dato) letztes Album der Gruppe erschien (das musikalisch auch eher ernüchternd ausfiel), trennten sich die Drei 2016 vorerst und verließen die Bühne des Showbiz damit als unrühmliches One-Hit-Wonder, das auch in der Szene inzwischen längst vergessen war. Zwar gab es 2017 als eine Art Trostpflaster noch einmal ein Solodebüt von Beth Ditto und 2019 sogar eine kurze Live-Reunion, fürs erste ist es im Moment aber auch wieder still um Gossip. Es kann dabei zwar durchaus sein, dass die Band in diesem Moment an neuem Material arbeitet und verbliebene Fans spekulieren tatsächlich, ob demnächst vielleicht wieder ein neues Album von ihnen erscheint, große Hoffnungen mache ich mir diesbezüglich jedoch nicht. Und selbst wenn: So gut und so groß wie dieses hier wird es sicherlich nicht mehr. Auch wenn die Popkultur von heute diesem Trio sicherlich viel zu verdanken hätte.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11

Persönliche Höhepunkte
Dimestore Diamond | Heavy Cross | Pop Goes the World | Men in Love | For Keeps | 2012 | Four Letter Word | Spare Me From the Mold

Nicht mein Fall
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