Mittwoch, 29. Juni 2022

Will Weile haben

Porcupine Tree - Closure / Continuation
PORCUPINE TREE
Closure/Continuation
Music for Nations
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ ahnbar | traditionsbewusst | ausführlich ]

Es dürfte auf diesem Format zumindest von meiner Seite aus inzwischen einigermaßen etabliert sein, dass ich kein besonders großer Fan der Musik von Steven Wilson bin und er mit seinem Schaffen für mich an vielen Stellen das schlimmste repräsentiert, was moderner Progrock sein kann. Und obwohl ich diese Kritik hier bisher vornehmlich auf seine Arbeit als Solokünstler bezogen habe, gilt das in den meisten Fällen auch für die zigtausend anderen Projekte, die er über die Jahre hinweg nebenher aufgesammelt hat. Mit einer entscheidenden Ausnahme: Seiner ursprünglichen Hauptband Porcupine Tree, durch die er in den Neunzigern und Zwotausendern eigentlich erst zu der musikalischen Koriphäe wurde, als die ihn viele Fans heutzutage sehen und bei der er historisch gesehen auch immer am wenigsten Chef war. Zwar heißt das für mich auch keinen Fall, dass es in deren Diskografie nicht auch den ein oder einen peinlichen stilistischen Fehltritt gibt, dennoch waren sie doch zumindest die meiste Zeit über die Version von Steven Wilson, die nicht nur halbwegs klar ging, sondern mit der ich mich stellenweise sogar echt anfreunden konnte. So sind Platten wie In Absentia, On the Sunday of Life oder Deadwing Teile ihres Katalogs, die ich tatsächlich ernsthaft mag und von denen ich letztere sogar als physisches Format besitze. Das blöde dabei war bisher nur, dass eben diese Band über die gesamten letzten 13 Jahre hinweg (dem Zeitraum also, in dem praktisch meine gesamte musikalische Sozialisation stattfand) quasi nicht existierte und von Wilson zugunsten seiner Solo- und Seitenprojekte lange auf Eis gelegt wurde. Offiziell wurde dabei zwar niemals bekannt gegeben, ob Porcupine Tree nun final aufgelöst wären oder einfach nur eine sehr lange Pause einlegten, für lange Zeit fühlte es sich aber doch so an, als ob ihr Abschied nach the Incident von 2009 ein ziemlich endgültiger wäre. Bis letzten Herbst dann entgegen aller Erwartungen doch noch die Ankündigung eines neuen Albums von den verbliebenen drei Mitgliedern kam, das tatsächlich auch nicht als große Rückkehr oder fulminantes Comeback geplant war, sondern laut Aussage der Band nur etwas länger gedauert hatte, um die neue Platte fertigzustellen. Zwölf Jahre, um genau zu sein. Und obwohl Porcupine Tree im Progrock-Olymp der letzten zwanzig Jahre ja anscheinend nicht die einzigen sind, die auch gerne mal solch umfangreiche Zeiträume für eine einzige LP aufwenden (*hust* Alle Bands von Maynard James Keenan *hust*), ist es doch schon sehr ungewöhnlich für jemanden wie Steven Wilson, der sonst gerne neues Material im Monatstakt veröffentlicht. Die Wahrheit scheint also ein bisschen zu sein, dass Porcupine Tree sich seit 2010 mehr oder weniger durch dieses Album hindurchprokrastiniert haben, was meine Erwartungen für das Ergebnis schon mächtig dämpfte. Denn wie gut konnte schon eine LP sein, die von sämtlichen Mitgliedern der Band möglicherweise nur als lästige Fleißarbeit empfunden wurde? Wie sich herausstellt sogar ganz in Ordnung. Zumindest dann, wenn man den bei mir üblichen Maßstab für ein Projekt ansetzt, das wesentlich von Steven Wilson realisiert wurde. Wobei man in erster Linie sagen muss, wie sehr Porcupine Tree auch 2022 noch nach Porcupine Tree klingen und Closure/Continuation klanglich und kompositorisch ziemlich genau das ist, was man als Nachfolger von the Incident erwartet hätte: Ein grundsätzlich moderner und technisch versierter Progrock-Sound mit starken Altrock-Bezügen, hinter dem sich jedoch eine tiefe Verehrung für die Klassiker des Genres, insbesondere King Crimson, Pink Floyd und Genesis, verbirgt. Und obgleich das als solches ziemlich ahnbar ist, funktioniert es als Rezept für große Teile der Platte mal wieder äußerst zufriedenstellend. Da ist der imposante achtminütige Opener Harridan, in dem direkt mal auf alle erdenklichen Arten mit den Muskeln gespielt, dabei aber nie das gute Songwriting vergessen wird oder das wärmend-balladige Of the New Day, das im Anschluss daran genau auf die richtige Weise das Tempo rausnimmt. An anderer Stelle gibt es einen Song wie Chimera's Wreck, das als sehr softer Slowburner anfängt, sich dann aber in ein flamboyantes Gniedelmonster wandelt oder das sehr ruppige und verklausulierte Rats Return, das Wilsons Verehrung für das Gitarrenspiel von Robert Fripp ein weiteres mal sehr beeindruckend illustriert. Ganz besonders angetan bin ich dabei hier auch durchweg von Gavin Harrisons fantastischer Performance am Schlagzeug, die für jeden Hakenschlag des Sounds die perfekte Nuance findet und noch dazu durchweg formvollendet abgemischt ist. Und obwohl es dabei - vor allem auch in Sachen Sound - mal wieder Momente wie Dignity oder Never Have gibt, in denen Porcupine Tree ordentlich den theatralen Schmalz rauslassen oder einfach mittelmäßige Füllertracks schreiben, sind diese doch eher die Ausnahmen und beschränken sich größtenteils auch auf die Deep Cuts der Platte. Was für Steven-Wilson-Verhältnisse in meinen Augen schon eine echt gute Bilanz ist. Ich kann zwar nicht unbedint behaupten, dass ich von Closure/Continuation an diesem Punkt positiv überrascht bin, denn meine Erwartungshaltung zuvor war eher ziemlich diffus, doch bin ich auf jeden Fall froh, dass es hier so gut ausgegangen ist. Unter den vielen Progbands, die in den letzten Jahren ein Comeback gewagt haben, sind ausgerechnet Porcupine Tree gerade diejenigen, die eine verhältnismäßig saubere Landung hingelegt haben, was ich schon ein bisschen witzig finde. Mit diesem Album als Ergebnis will ich ihnen das aber nicht missgönnen und freue mich stattdessen, endlich auch mal wieder etwas positives über eine Band von Wilson zu schreiben. Und sollte es tatsächlich ihre letzte Unternehmung werden, haben sie die ganze Nummer wenigstens ordentlich abgeschlossen. Was sie dann im Endeffekt sogar Pink Floyd voraus hätten.

 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11


Persönliche Höhepunkte
Harridan | Of the New Day | Walk the Plank | Chimera's Wreck | Love in the Past Tense

Nicht mein Fall
Dignity


Hat was von
A Perfect Circle
Eat the Elephant

Radiohead
OK Computer


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