Samstag, 4. Juni 2022

Pride Month 2022: Teil 1: About A Boy

The Smiths - The Smiths
PRIDE MONTH 2022
TEIL 1:
THE SMITHS
the Smiths
Rough Trade
1984

 
 
 
 
 
 
 
 
[ sensibel | identitätsstiftend | antitoxisch ]

Es ist sicherlich eine nicht ganz unkontroverse Entscheidung, eine Besprechungsreihe zum diesjährigen Pride Month ausgerechnet mit einem Text über die Smiths anzufangen und es wird gezwungenermaßen auch eine der Aufgaben des selbigen sein, in aller Ausführlichkeit zu sezieren, wieso das so ist. Denn natürlich hat das ganze wie immer bei dieser Band mit der Causa des Steven Patrick Morrissey zu tun und die Bedarf 2022 nun mal diverser Disclaimer, wenn man trotz allen indiskutablen Attributen dieses Künstlers noch darüber reden will, wie genial er zweifelsohne als Musiker ist. Letzteres ist dann aber auch einer der Gründe, warum ich es trotz aller Erschwernisse wichtig finde, über dieses Album als einen der wesentlichen Resonanzpunkte queerer (Alternativ-)Kultur zu schreiben und dabei definitiv die These aufstellen werde, dass es als solches für die pophistorische Herangehensweise an LGBTIQ-Themen unumgänglich ist. Wobei auch da schon die wichtigste Kontroverse anfängt, denn wenn man das hier (wie ich es im weiteren tun werde) vordergründig als lyrischen Gefühlsausbruch eines jungen schwulen Mannes im England der Achtzigerjahre sehen will, muss man sich zuallererst die Frage stellen, ob dieser Mann denn nun tatsächlich Morrissey ist. Und genau an dieser Stelle wird es nicht nur kompliziert, sondern vielleicht auch ein bisschen privater, als ich es auf diesem Format sonst gerne habe. Denn öffentlich geoutet ist der Brite, der all diese Texte verfasste, im stattlichen Alter von 63 Jahren streng genommen nicht. Zwar gibt es wiederholte Aussagen von ihm, denenzufolge er definitiv Beziehungen mit Männern geführt hat, er selbst bezeichnet sich jedoch seit 2013 als "humansexuell" und lebt außerdem schon seit Jahrzehnten im selbstverordneten Zölibat. Ich persönlich habe an dieser Stelle kein Interesse daran, irgendwas an diesen Zuordnungen zu hinterfragen und möchte den Mann keine dieser Aussagen nicht absprechen, weshalb ich mich an diesem Punkt einfach mal so äußere, dass viele Textbausteine auf diesem Album auf jeden Fall Deutungsebenen zulassen, die romantische Gefühle zwischen Männen beschreiben. Denn obwohl Morrissey in den wenigsten Momenten explizit darüber schreibt, schwul zu sein, fängt er doch sehr gut ein, wie es sich in seiner Situation angefühlt haben muss, schwul zu sein. Klarster Indikator ist dabei sicherlich auch der größte Hitsong der Platte, This Charming Man mit seiner mittlerweile berüchtigten Geschichte über einen elegenten älteren Mann, der einem jugendlichen Erzähler anzügliche Komplimente macht, die dieser aber nicht als bedrohlich oder unpassend, sondern durchaus als angenehm wahrnimmt. Es ist ein surreales Stück Storytelling, das in seiner problematischen Natur jedoch alles von der spürbaren Anziehung der beiden bis zur pubertären Verworrenheit des Erzählers wahnsinnig eindrücklich ausformuliert und dadurch auf weirde Weise einer der faszinierendsten Smiths-Songs überhaupt ist. In Hand in Glove wiederum, einem oberflächlich als unkomlizierter Lovesong formulierten Track, gibt es immer wieder Zeilen wie "Oh and the people stare / I really don't know and I really don't care", die auf einen gesellschaftlich verpönten Charakter der beschriebenen Beziehung hindeuten, die deshalb auch sehr schnell als eine zwischen zwei Männern gedeutet wird. Und auch wenn die Texte von Morrissey in den wenigsten Momenten dieser LP so klare Assoziationen zulassen wie in diesen beiden Stücken, geht es doch auch auf den anderen Tracks ständig um Themen wie ein unterdrücktes romantisches Verlangen oder zelebriertes Außenseitertum, die gerne auch in Verbindung miteinander stehen und über die letzten 40 Jahre die Kreativität vieler Fans angeregt haben. Wobei klare Signale in Richtung queerer Botschaften in vielen Punkten auch durch Elemente gegeben werden, die nicht primär musikalisch oder lyrisch sind. So ziert das Cover des Albums - ebenso wie das vieler Singleauskopplungen - ein unbekleideter junger Mann und auch wenn man sich das öffentliche Auftreten der Band und besonders von Morrissey zu dieser Zeit ansah, stand vieles daran unter ihren Zeitgenoss*innen dadurch hervor, wie erfrischend unmaskulin und emotionsbetont es war. Man kann Morrissey aus heutiger Perspektive ein bisschen dafür verlachen, dass er damals so ein melodramatisch-selbstmitleidiger Schmachtfetzen war, der mit Blumensträußen auf der Bühne herumwedelt und wehleidig durch seine Hornbrille guckt, tatsächlich ist er damit aber einer der ersten effektiven Gegenentwürfe zu den übermännlichen Rockertypen, die zu dieser Zeit die Regel waren und auf seine Weise auch ein Prototyp des Musikers, der in seinen Songs Themen der mentalen Gesundheit anspricht. Was es gerade auch deshalb so schade macht, dass aus diesem eigentlich sehr positiven Beispiel für die Popkultur inzwischen ein neurechter Boomerqueri geworden ist, der zu den denkbar nervigsten Gestalten seiner Generation gehören dürfte und dabei auch immer ein bisschen die Frage mitschwingen lässt, ob er das hier nicht eigentlich auch schon war. Aber das ist eben so die Sache mit Prototypen: Sie müssen manchmal erst zeigen, was an ihnen wirklich funktioniert und an vielen Stellen sind sie dabei auch sicherlich noch problematisch. Aber zumindest wenn es um die Smiths geht kann man ja mit Erleichterung sagen, dass die richtigen Leute sich aus ihrer Musik inzwischen die richtigen Lektionen mitgenommen haben und ihr Einfluss dafür gesorgt hat, dass es seitdem Bands wie Suede, Placebo oder Drangsal gibt, die nicht nur Indierock als popmusikalische Entität weiter geformt haben, sondern die Smiths anscheinend auch als queere Botschafter wahrgenommen haben, denen sie in diesem Sinne nacheifern. Und die aus diesem Prototyp damit etwas gemacht haben, das von seinen Überzeugungen her vielleicht etwas besser gealtert ist. Obwohl ich persönlich das Original - ausschließlich auf seine musikalischen Qualitäten bezogen - auch immer noch richtig klasse finde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Reel Around the Fountain | You've Got Everything Now | the Hand That Rocks the Cradle | This Charming Man | Still Ill | Hand in Glove | What Difference Does It Make? | I Don't Owe You Anything | Suffer Little Children

Nicht mein Fall
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