Mittwoch, 8. Juni 2022

Das letzte bisschen Crossover

Christina Aguilera - AGUILERA
CHRISTINA AGUILERA
Aguilera
Sony Music Latin
2022
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ trocken | latinpoppig | spanisch ]
 
Es ist sicherlich kein Zufall, dass Christina Aguilera es ausgerechnet jetzt für eine gute Idee hält, mit dieser selbstbetitelten LP zum ersten Mal seit 22 Jahren ein Album komplett auf spanisch aufzunehmen, das sich noch dazu ziemlich dreißt an die noch immer ziemlich aktuellen Latinpop- und Reggaeton-Trends der letzten Jahre heranzuschmeißen versucht. Und an sich ist das auch eine Sache, mit der ich von vornherein schon ein Problem habe. Denn statt echter künstlerischer Leidenschaft und einer kreativen Verbingung zu dieser Musik steckt dahinter hier wahrscheinlich die gleiche Motivation, die seit kurz nach Despacito die gesamte US-Amerikanische Musikindustrie dazu gebracht hat, ihre während der ersten Hälfte der Zwotausendzehner unter den Teppich gekehrten Latin-Verbindungen irgendwie wiederzuentdecken und die zuletzt alle von Kali Uchis (Ihr Reggaeton-Album von 2020 war keine Überraschung, aber schon eine Umorientierung) über Shakira (die ja schon immer irgendwie eine Crossover-Künstlerin war) bishin zu den Black Eyed Peas oder Madonna (immer noch ein fucking schlechter Witz) befallen hat: Latinpop ist in Nordamerika ein stetig wachsender Markt und bietet dabei anscheinend auch Platz für ein paar ausrangierte Ex-Popstars, die sich hier nochmal an einem späten Comeback versuchen. Wobei ich so fies an dieser Stelle gar nicht sein will. Die meisten der eben angesprochenen Platten mochte ich am Ende ja auch ganz gerne und selbst wenn ich es bei manchen Leuten ein bisschen albern finde, wie peinlich sie versuchen, diesen offensichtlichen Cashgrab als authentische Back to the Roots-Nummer zu verkaufen, ist die Musik dahinter meistens trotzdem gut. Und wenn wir dabei im Speziellen von Christina Aguilera sprechen, ist sie für mich sogar eine derjenigen, der ich die ganze Scharade ein bisschen abkaufe. Nicht nur weil sie wie gesagt bereits in der Vergangenheit Musik auf spanisch gemacht hat, auch gibt es bei ihr durchaus nachvollziehbare Verbindungen zu lateinamerikanischer Popmusik, die sich eben nur bisher nicht so gut vermarkten ließen wie im Moment. Dass Aguilera wiederum ein überzeugendes Album werden würde, erhoffte ich mir vor allem deahalb, weil das letzte Album der Kalifornierin von 2018 bereits richtig gut war und als fulminantes Comeback der Souldiva eigentlich dort schon alles hatte (außer Erfolg). Wenn diese neue LP also schon ein verzweifelter Cashgrab werden würde, hatte er wenigstens die Möglichkeit, trotz allem musikalisch bereichernd zu sein und vielleicht auch eine vergessene klangliche Facette an dieser Künstlerin aufzutun, die jetzt auch auf offene Ohren stoßen würde. Das Ergebnis allerdings ist dann leider eher ernüchternd geworden und lehnt doch stark in die Richtung eines Albums, das einfach nur versucht, noch den günstigen Rest einer Trendwelle abzubekommen, bevor diese vorbei ist und dabei nicht selten ziemlich deppert aussieht. Zwar gibt es auf Aguilera an vielen Stellen durchaus Ambitionen, nicht nur aus einer gängigen Reggaeton-Schablone aus zu agieren und mit La Reina und Cuando Me Dé La Gana sind sogar zwei Songs mit ernsthaften Mariachi- und Guanganco-Tendenzen auf der LP vertreten, die allerdings sind leider auch die nervigsten Bestandteile daran. Zum einen deshalb, weil sie auf einem sonst so modernen und poppigen Album völlig aus dem Schema fallen, zum Anderen vor allem deshalb, weil sich die soften Folk-Ästhetiken dieser Tracks nur ungenügend mit Aguileras monstösen Wellenbrecher-Vokalriffings vertragen und am Ende einfach nur ziemlich albern und überzogen wirken. Und obwohl mir die klassischen Reggaeton-Nummern auf der Platte schon wesentlich lieber sind und es darunter ein paar echte Perlen wie Te Deseo Lo Mejor oder Como Yo gibt, sind diese bestenfalls gut gemachte Abziehbilder aktueller Genretrends und um ein vielfaches unkreativer geschrieben als sog ziemlich alles auf Liberation. Im schlimmsten Fall kommt am Ende sogar ein Rohrkrepierer wie Traguito raus, mit dem niemand so richtig etwas anfangen kann und der einfach nur stört. Was mich an Aguilera letztlich aber am meisten stört ist, wie furchtbar unpersönlich und aufgesetzt so gut wie alle Stücke darauf klingen, gerade auch weil viele davon mal wieder sehr persönlich gemeint sind. Nimmt man mal den direkten Vergleich zum Vorgänger und stellt die Wirkmächtigkeit der künstlerischen Botschaften gegenüber, sind Liberation und diese neue LP zwar beides Projekte der mit der ähnlichen Intention, irgendwie intim, biografisch und empowernd zu sein. Wo das beim letzten Mal aber großartig gelungen war und auch in ganz verschiedenen Facetten funktionierte, wirkt es hier wie eine billige Vorhut, um irgendwie auf verwurzelt und traditionell zu machen. Im Rahmen eines Albums, das für mich sowieso schon verzweifelt nach Sellout und Trendhopping klingt ist das dann letztendlich eher eine Verschlimmbesserung als eine wirklich gute Idee. Und ja, ein Teil von mir nimmt das Christina Aguilera vielleicht auch ein bisschen persönlich. Gerade nach einer Platte wie Liberation, die so künstlerisch reif und anders wirkte und den Anschein erweckte, dass hier mal ausnahmsweise nicht die Kohle im Vordergrund stand. Aber statt einer gereifteren Einstellung zum eigenen Schaffen und dem bewussten Abgang vom kommerziellen Pop scheint hier dann doch die Sorge zu dominieren, dass man irgendwann kein Popstar mehr sein könnte und deshalb nach allen Regeln der Kunst kompensiert. Wobei das in meinen Augen an diesem Punkt eigentlich auch schon vergebens ist, denn dass Christina Aguilera das letzte Mal ein Popstar war, ist inzwischen schon ziemlich lange her. Und ich dachte eigentlich, auch sie hätte das inzwischen akzeptiert.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 06/11
 
Persönliche Höhepunkte
Pa Mis Muchachas | Santo | Como Yo | Suéltame | Te Deseo Lo Mejor

Nicht mein Fall
Traguito | Cuando Me De La Gana


Hat was von
Rosalía
El Mal Querer

Madonna
Madame X


 

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