Montag, 8. November 2021

Von Geisterhand

Sóley - Mother Melancholia SÓLEY
Mother Melancholia
Die-Ai-Wei
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ geisterhaft | gruselig | ätherisch ]

Ich weiß tatsächlich gerade nicht, was der größere Zufall ist: Dass Mother Melancholia nicht das erste Mal ist, dass mir die Künstlerin Sóley Stefánsdóttir in meinem Leben als Musikfan über den Weg läuft oder doch die Tatsache, dass ich ihr nach inzwischen fast einer Dekade nun nochmal begegne. Selbstverständlich ist es auf jeden Fall nicht, war beziehungsweise ist sie doch weder jetzt noch damals eine Musikerin, über die alle Welt redet und die Kontexte, in denen ich diese beiden Mal auf sie stieß, waren stets eher ungewöhnlich. Dass es so gekommen ist, freut mich aber umso mehr. Denn hätte ich mich das erste Mal, als mir dieses neue und inzwischen vierte Album von ihr begegnete, nicht an meine erste Begegnung mit ihr erinnert, hätte mich wohl kaum die Neugier gepackt, zu erfahren, was die Isländerin inzwischen so macht. Und hätte ich in Folge dessen nicht Mother Melancholia gehört, wäre mir mit Sicherheit einer der besten Longplayer der gesamten Saison durch die Lappen gegangen. Wobei ein bisschen Kontext zur Sóley von vor neun Jahren dabei auch nicht unwichtig ist. Von dem, an was ich mich von damals noch erinnere, war die Songwriterin ihrerzeit ein Teil jener niedlichen Kammerpop-Nachwuchstalente, die im Windschatten von Leuten wie Birdy, Dillon und Agnes Obel an die Oberfläche trieben. Die Musik der Isländerin war demzufolge zart und elfenhaft auf eine sehr wärmende Weise, die eine verkuschelte, impressive Melancholie schuf. Und wenn man wie ich diese Art von Songs nun auch auf Mother Melancholia erwartet, kann der Kulturschock, den man vom Ergebnis mitbekommt, schon gravierend werden. Denn obwohl Sóley als Performerin noch immer eine sehr zaghafte Herangehensweise hat, die sich sowohl in ihrem Klavierspiel (nach zehn Jahren noch immer ihr wichtigstes instrumentales Ausdrucksmittel) als auch in ihrem nymphigen Gesang äußert, ist ihre Ästhetik hier doch eine gänzlich andere, wesentlich unentspanntere. Soll heißen, dass diese LP hier zu den gruseligsten Sachen gehört, die ich 2021 gehört habe und die Ästhetik hier kein bisschen mehr niedlich ist, sondern eher ganz schön gespenstisch und kalt. Die erdigen und sommerlichen Töne, die Sóleys Musik früher umgaben, sind hier einem sehr monochromen und finsteren Sound gewichen, der in seinen einfachsten Momenten noch der gleiche softe Kammerpop (großzügig ergänzt durch ein paar Horrorstreicher und creepy Akkordfolgen) ist, gerade im Mittelteil der Platte aber auch Kopfüber in dröhnenden Dark Ambient und höllische Dissonanz-Eskapaden umkippt. Schüchtern ist Sóley dabei nur scheinbar, damit man ihr zu Anfang der Platte ein bisschen vertraut und in den Kaninschenbau folgt, in dem sie anschließend Stück für Stück zur drakonischen Bestie mutiert. Nie wird Mother Melancholia dabei aufgeregt oder brutal, gerade deswegen ist es aber umso heftiger. In den tiefsten Abgründen des Albums wird komplett auf Gesang verzichtet, sodass das schaurige Brummen der Schwärze noch besser zur Geltung kommt und sehr viel Raum für Dinge gelassen, von denen man vielleicht nur meint, sie gehört zu haben. In Songs wie In Heaven oder Sundown taucht die Platte danach langsam wieder aus der Versenkung auf und täuscht einige sehr euphorische Momente an, nur um am Schluss dann doch wieder in düsteren Drones und zitternder Monotonie zu strahlen. Eine herrliche Dramaturgie, die viele songwriterische Entscheidungen hier erst so richtig aufblühen lässt. Wobei Sóley von der Sache her ja nicht mal die erste ist, die solche Songs sehr gut macht. Viele Momente hier erinnern mich persönlich an den manischen Kammerpop einer Soap&Skin oder den grotesken Soundtrack, den Thom Yorke vor drei Jahren für Luca Guadagninos Suspiria-Neuverfilmung schrieb. Was die Isländerin auf dieser LP macht, ist aber trotzdem nochmal ein ganz anderes Kaliber, weil es diesen Ästhetiken hier noch mehr Platz einräumt und deshalb gleich fünfmal schwerer wiegt. Nicht in tatsächlicher klanglicher schwere, sondern in gefühlter Düsternis. Womit sie nicht nur ein sehr gutes Album schafft, sondern ein durchweg packendes, das sogar noch besser wird, sobald der Überraschungseffekt erstmal abgeklungen ist. Denn wie ein guter Horrorfilm wirkt es nicht nur wegen billiger Jumpscares und dem Spiel mit einer Erwartungshaltung, sondern weil es eine extrem dichte Atmosphäre erzeugt, die auch nach längerer Zeit nur schwer durchbricht. Und ich freue mich definitiv, von dieser Platte auch in Zukunft noch so manchen Schauer über den Rücken gejagt zu bekommen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Sunrise Skulls | Circles | Blows Up | Hysteria | Parasite | Desert | In Heaven | Sundown | XXX | Elegía

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Soap&Skin
Narrow

Thom Yorke
Suspiria


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