Mittwoch, 27. April 2022

Nachwachsense Rebellion

WAVING THE GUNS
Am Käfig rütteln
Audiolith
2022
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ politisch | angepisst | unkompliziert ]
 
Es ist vielleicht ein bisschen überfällig das an diesem Punkt festzustellen, doch finde ich folgenden Hot Take als Eröffnung für diesen Artikel durchaus nicht unwichtig: Das Herz politisch intelligenter Rapmusik in Deutschland schlägt 2022 in Mecklenburg-Vorpommern. Und es ist dabei in meinen Augen noch nicht mal wirklich knapp. Wo die Hamburger Bubble um Crews wie Neonschwarz und Swiss mich ehrlich gesagt noch nie wirklich abholte und weiter im Süden Leute wie die Antilopen Gang und Frittenbude immer mehr in ihrer Rolle als massenkompatible Konsens-Popstars aufgehen, bleibt die Szene im Nordosten der Republik nicht nur stabil, sondern wird in meinen Augen sogar immer besser. Denn obwohl Sookee als sicherlich wichtigste und bekannteste Künstlerin der Gegend inzwischen das Handtuch geworfen hat und Marten Lanciny eh schon immer nur halb zählte, hat der Untergrund in den Jahren danach gute Nachwuchsarbeit geleistet und ehemalige Newcomer*innen inzwischen zu echten Hochkarätern gemacht, die inzwischen lange in der Blüte ihrer Karriere stehen. Testo als 50 Prozent von Zugezogen Maskulin und Pöbel MC sind dabei Beispiele, die ich hier in den letzten Jahren schon ausführlich besprochen habe, mit Waving the Guns existiert aber seit einer ganzen Weile noch ein weiteres sehr wichtiges, das hier bisher noch kein Thema war. Und das obwohl ich sie von all diesen Acts inzwischen fast am längsten kenne. Ein Umstand, den ich mit diesem Artikel jetzt endlich mal ändern will und dafür anscheinend auch genau den richtigen Zeitpunkt erwischt habe. Denn wenn man mich fragt, ist Am Käfig rütteln höchstwahrscheinlich das bisher beste Album der Rostocker. Obwohl ihr klangästhetischer Entwurf von Deutschrap an sich kein wirklich progressiver ist und auch wenig ernsthaft besonders macht, heißt das bei ihnen vor allem, dass sie die dabei aufgesparte Energie zum größten Teil in klartextige und politisch brisante Lyrics stecken, was in ihrem Fall auch definitiv eine gute Entscheidung ist. Ganz einfach aus dem Grund, weil sie das verdammt nochmal richtig gut können. Über den ganzen inhaltlich spannenden Kram, den sie seit Jahren immer wieder rappen, vergisst man gerne mal ein bisschen, wie gut sie an vielen Stellen auch technisch sind und dass sie seit etlichen Jahren ein bisschen den nerdigen Wie-Vergleiche-um-die-Ecke-Reim-Style rehabilitieren, den Kollegah für viele inzwischen konsequent ruiniert hat. Und wo das auf ihren bisherigen drei Longplayern tatsächlich ein Phänomen war, das sich eher in Einzeltracks wie Das Privileg oder Du äußerte als in wirklich kohärenten Platten, kann ich mit Freude sagen, dass es auf Am Käfig rütteln das erste Mal albumübergreifend funktioniert und die Rostocker hier auch in den Deep Cuts spannendes vorzuweisen haben. Wobei es bei insgesamt 16 Tracks in einer knappen Stunde auch reichlich viele davon gibt. Die werden zwar auch nicht unbedingt dafür genutzt, dass sich musikalisch zu diversifizieren und auch viele der Themen, die WTG hier ansprechen, sind für sie nicht wirklich neue. Das ist aber schon allein deshalb voll okay, weil es dafür viele Songs wie Blase, Distanz oder Alles egal, alles hassen gibt, die diesen Platz nutzen, um inhaltlich wirklich in die Binsen zu gehen und gesellschaftskritische Disses auf argumentativem Niveau rauszuhauen. Die Feindbilder sind dabei ebenso vielfältig wie ahnbar und dass die Thesen dieser Band manchmal steil sind, kennt man auch schon von früheren Alben. Dass es hier aber nochmal besser funktioniert als auf diesen Vorgängern und WTG es dabei weiterhin auf die Reihe kriegen, nicht zu bierernst und anklangend zu klingen, finde ich beachtlich. Weshalb meine beiden liebsten Songs die letzten beiden auf dieser LP sind, in denen sich die Rostocker auf zwei sehr verschiedene Weisen an die stilistischen Außengrenzen ihrer Ästhetik begeben. Wo Man tut was man kann dabei auf der einen Seite ein sehr comedyhafter Song ist, der mit Fatoni auch einen lyrisch viel lockerer aufgestellten MC dazuholt (was den Track direkt nochmal zehn Level cooler macht), ist Nina Simone als Schlussakkord der Platte einer der bisher abstraktesten Songs der WTG-Diskografie, der gerade deshalb aber auch so gut als hymnischer Closer (und wahrscheinlich auch als künftiger Fanfavorit auf Konzerten) sehr gut funktioniert. Was in meinen Augen noch stärker den Gedanken unterstreicht, dass Waving the Guns auf diesem Album mehr geworden sind als nur die zeckige Sechzehnerfabrik mit der richtigen Haltung, sondern tatsächlich sowas wie wirklich gute. Und wo ich bei ihnen vorher immer ein bisschen das Gefühl hatte, sie hauptsächlich ihrer Message wegen zu mögen und die Musik eher als schicken Nebenschauplatz zu sehen, hat sich dieses Verhältnis hier doch sehr angeglichen. Was mich in erster Linie freut, denn damit habe ich jetzt endlich das Album von ihnen gefunden, das ich ohne irgendwelche Einschränkungen an diejenigen weitergeben kann, die politische Musik auch ohne eigene Blockadeerfahrung zu schätzen wissen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Gran Canaria | Alles egal, alles hassen | Besser als nichts | Rental Van | Lieblingsmilliardär | Coldplay & Nazis | Kernkompetenz | Siegelring | Man tut was man kann | Nina Simone (W.T.G.)

Nicht mein Fall
-
 
 
Hat was von
Pöbel MC
Bildungsbürgerprolls
 
Juse Ju
Übertreib nicht deine Rolle


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