Donnerstag, 14. April 2022

Beim Thema bleiben

Kae Tempest - The Line Is a Curve
KAE TEMPEST
the Line is A Curve
American | Republic
2022
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ sozialkritisch | persönlich | lyrisch ]
 
Man könnte 2022 an der Musik von Kae Tempest ja schon irgendwie kritisieren, dass diese sich inhaltlich nur noch wiederholen würde und thematisch vielleicht etwas zu sehr in einem bestimmten Narrativ feststeckt, womit man technisch gesehen wahrscheinlich sogar Recht hätte. Bereits seit dessen drittem Album Let Them Eat Chaos von 2016 ist der Katalog des britischen Spoken-Word-Phänomens mit irgendeiner Form psychologischer Gegenwartsaufarbeitung beschäftigt, die ebenso explizit politisch wie diffus intim und persönlich ist und darin auch ein sehr spezielles erzählerisches Feld besetzt. Doch wo sich an diesem die letzten sieben Jahre über eigentlich nicht wirklich viel geändert hat und das für jede*n andere*n Künstler*in tatsächlich eine Schwäche sein könnte, ist die gefühlte Notwendigkeit solcher Musik von Tempest in meinen Augen seitdem nicht weniger geworden. Im Gegenteil ist sie in vielen Punkten sogar relevanter denn je. Denn dass politisch und gesellschaftlich gesehen die Kacke seit geraumer Zeit ordentlich am Dampfen ist und sich universell das Gefühl breitmacht, kollektiv auf eine ziemliche Katastrophe zuzusteuern war eine Sache, die Tempests Songs zuletzt sehr einfühlsam vertonten, wodurch sie zwischendurch auch zu einem künstlerisch extrem starken Zeitzeugnis wurden. Und nicht zuletzt deshalb war the Book of Traps & Lessons, der letzte Longplayer dieser Sorte, 2019 mein Lieblingsalbum der Saison. Was heißt dass auch drei Jahre später, in denen die ganzen dort beschriebenen Zustände keineswegs besser geworden sind, ich noch immer nicht müde bin, eine weitere Ausführung dieser Sorte Songs zu hören. Wobei the Line is A Curve letztlich nur zum Teil eine Platte ist, die diesem Verlangen gerecht wird. Zwar gehen viele Tracks hier ein weiteres Mal mit schwermütigen sozialkritischen Beobachtungen auf direktem Weg in die Magengrube und ein leicht zu verdauendes Album ist das hier sicher nicht, doch geht Tempest dahin nicht immer die gleichen Wege wie zuletzt. So sind viele Auführungen hier eher persönlicher Natur und beschäftigen sich mit dem Innenleben der lyrischen Figuren, was schonmal einen kleinen Unterschied macht, vor allem ist the Line aber auch erstmals ein Album, das sich viel mehr auf großzügige musikalische Ausarbeitungen fokussiert und damit ebenfalls einen großen Sprung macht. Sicher, Let Them Eat Chaos und Traps & Lessons waren beides keine monotonen Platten und durchaus auch klanglich spannend, einen so vielschichtig ausformulierten Song wie hier These Are the Days gab es dort aber definitiv nicht und vor allem die Vielfalt, mit der Tempest hier erstmals arbeitet, stößt dem Sound viele neue Türen auf. Da gibt es ziemlich deftige Synthpop-Wände wie in Priority Boredom oder Move, die mich in ihrer Heftigkeit sehr an das letztjährige Album von For Those I Love erinnern, hiphoppige Stücke wie Smoking oder More Pressure, in denen Tempest auch erstmals sehr ansprechend das Thema Features anpackt und am Ende sogar jazzig-postrockige Mehrteiler wie das bereits angesprochene These Are the Days, in denen die Lyrics tatsächlich mal nicht so sehr im Vordergrund stehen wie sonst immer. Auch wenn die natürlich nach wie vor das Attribut sind, deretwegen ich dieses Album hauptsächlich hören wollte und die mich auch nach wie vor fast immer überzeugen. Zwar gibt es hier durchaus wieder ein paar Passagen wie aus der Frühphase von Tempest, in denen einfach sehr willkürlich Schlagworte aneinander gereiht werden und die deshalb narrativ nicht so stark sind wie andere, mit Songs wie No Prizes - einem Stück über die Gnadenlosigkeit der Kreativwirtschaft mit fantastischem Gastspot von Lianne LaHavas - oder dem biografisch tief blickenden Smoking gibt es die großen und erzählerisch mitreißenden Momente aber trotzdem reichlich. Und obwohl the Line is A Curve damit am Ende vielleicht ein etwas anderes Album geworden ist als von mir erwartet, ist die gute Nachricht dabei trotzdem, dass das eher bedeutet, dass es hier noch mehr schöne Dinge zu entdecken gibt und die Qualitäten von Tempest hier einfach noch vielfältiger werden. Traps & Lessons mit seinen emotional tiefgreifenden Stories und seiner packenden Momentaufnahme gesellschaftlicher Verhältnisse wird dabei zwar auch weiterhin meine Lieblingsplatte bleiben, als Fan triggert vieles hier aber wieder genau die gleichen Vorlieben wie beim letzten Mal und kann am Ende sogar noch ein paar coole Sachen, die der Vorgänger noch nicht konnte. Und als wichtige zeitgenössische Erzählperson und poetischer Fels in der Brandung stürmischer Zeiten verbleibt Tempest so oder so, auch wenn es diesmal nicht so explizit wird.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
I Saw Light | No Prizes | Salt Coast | These Are the Days | Smoking | Water in the Rain | More Pressure | Grace

Nicht mein Fall
-


Hat was von
For Those I Love
For Those I Love

Gil Scott-Heron & Jamie xx
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