existence to the end / of the beginning
Wenn man mich nach meiner ganz persönlichen, subjektiven Einstellung fragt, dann ist 1966 schon sowas wie das eine
goldene Jahr des Sechzigerpop, das im Nachhinein am meisten die Art von Musik
repräsentiert, die ich mit dieser Dekade verbinde. Der perfekte Sweet Spot
zwischen British Invasion, Blues, Folk Revival und Summer of Love, das große Jubeljahr
des Freak Beat und Mod, der optimale Schnittpunkt zwischen der zuckerzarten
Pop-Sensibilität der frühen Sixties und dem experimentellen Sockenschuss der
Hippie-Ära kurz danach. Dass es dabei eher ein softer Übergang zwischen diesen
definierenden Phasen des Jahrzehnts ist als eine definierte Momentaufnahme, ist
eine Feststellung, die ich in dieser Art von Posts nicht zum ersten Mal
machen musste und die bestimmt auch nicht das letzte Mal stattfindet. Doch kann
ich im Falle dieses Jahres das erste Mal wirklich sagen, dass es beim Anhören
der vielen Platten aus dieser Saison eine gewisse Grundsumme an Werken gab, die
ein gemeinsamer Spirit und eine Ästhetik verbindet, die ich als irgendwie
definierend für diese Zeit in der Popmusik emfinde. Eine Aura von kreativer Befreiung, von
künstlerischem Optimismus und von einer zaghaften Wildheit, die auch Teil einer
wichtigen emanzipatorischen Haltung ist. Wobei die wichtigsten Impulse selbiger
stärker denn je aus Richtung der britischen Inseln kommen. Dort haben die Bands
der ersten Generation British Invasion wie the Kinks, the Who, the Yardbirds
und die Rolling Stones sich inzwischen musikalisch gefestigt und wachsen Jahr
für Jahr mit ihren Möglichkeiten. Was viele dieser Bands spätestens 1966 dazu
antreibt, erste große Gesamtwerke wie A Quick One oder Roger the
Engineer zu veröffentlichen, die sich auch trauen, ein bisschen freaky und
verkunstet zu sein. Wobei die zwei größten Player in dieser Hinsicht, die
Beatles und die Beach Boys, gedanklich schon viel weiter sind und mit Revolver
und Pet Sounds die ersten großen Maßsteine für das setzen, was in den
Folgejahren als Psychedelic Rock in die Geschichte eingehen wird. Und obwohl
nur eines dieser Alben letztendlich auch in dieser Liste auftaucht (Sorry, aber
die wirklich spannenden Platten der Beatles kommen meiner Meinung erst noch),
sind sie doch maßgebliche Trendsetter für alles, was danach kommt. Wobei sie in
meinen Augen auch durchaus nicht die einzigen sind, die in dieser Hinsicht sehr
progressiv denken. So ist das bereits angesprochene A Quick One von the
Who für mich an manchen Stellen ein sehr viel gewagteres musikalisches
Statement als das Zeug der Beatles und Beach Boys und die junge Gruppe Cream um einen grünohrigen Eric Clapton treibt ihren
gepfefferten Bluesrock schon ein gewaltiges Bisschen in Richtung des Acid Rock
der beginnenden Siebziger. Wobei in diesem Bereich der Rockmusik 1966 erstmal
eher von klassischen Garagengruppen wie den Monks, den Sonics und den Seeds
dominiert wird, denen die schwurbelige Psychedelik vieler Kollegen herzlich
egal ist und die hier eher die Fundamente dafür setzen, was gut eine Dekade
später die Knospen der Punk-Bewegung wieder aufnehmen. Blues ist dabei ebenfalls weiterhin eine Szene mit starker Triebkraft, die nicht zuletzt auch durch viele jüngere Rockbands wieder aufgenommen wird, die sich den Idealen alternder Größen wie Muddy Waters, John Lee Hooker oder Howlin' Wolf verschreiben. Und dass das legendäre Genrelabel Chess Records 1966 seine glorreiche Archivplattenserie Real Folk Blues mit alten Aufnahmen von fünf Blues-Verteranen veröffentlicht, tut sein übriges. Jazz indes taucht zumindest in meiner Liste hier kaum noch auf und wenn man die Fäden hier zusammenzieht, merkt man auch, dass für die großen Idole der frühen Sechziger hier langsam eine dunkle Zeit beginnt: Charles Mingus und Miles Davis befinden sich beide in größeren Sinnkrisen und Schaffenspausen, die junge Garde ihres einstigen Nachwuchses flüchtet sich wahlweise in die Avantgarde oder den Sellout und John Coltrane, lange der schillernde Vordenker der Bewegung, wird nur ein Jahr später sterben. Die unschöne Seite einer Zeitenwende, die aber nichtsdestotrotz ein wichtiger Teil davon ist.
...but let's talk about it
Man hätte es aufgrund des bisherigen Trends innerhalb der Oldies-Rubrik und auch aufgrund meiner zuoberst angesprochenen Leidenschaft für viele musikalische Phänomene aus dieser Zeit schon erraten können, aber meine Liste ist schon wieder ordentlich gewachsen. 30 Einträge habe ich hier diesmal zusammengefasst und dabei schon einiges ausgelassen, über das ich sicherlich gerne hätte reden wollen (*hust* Revolver *hust*). Am Ende fühlt sich das hier aber wie eine Sammlung von Platten an, die ich wirklich ohne Vorbehalte empfehlen will und die mir ganz einfach richtig viel Spaß gemacht haben. Komplizierter als das ist es grundsätzlich nicht und abgesehen von meinen üblichen Disclaimern habe ich dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen:
1.
Diese Liste ist zu 100 Prozent subjektiv und reflektiert nicht mehr und
nicht weniger als meine eigene Auffassung. Wenn etwas hier nicht
auftaucht, kenne ich es entweder nicht oder ich fand es nicht so
nennenswert, dass es hier auftaucht
2.
Diese Liste ist nicht endgültig. Es kann vorkommen und ist sogar sehr
wahrscheinlich, dass ich meine Meinung zu Einträgen hier zu einem
späteren Zeitpunkt ändere oder hinterfrage.
3. In dieser Liste geht es nicht darum, wie visionär oder innovativ einzelne Platten waren oder sind, sondern einfach nur darum, wie sehr ich diese mag.
30.
JOHN MAYER & THE JOE HARRIOTT DOUBLE QUINTET
Indo-Jazz Suite
Atlantic
Jazz
Fusion /// Dass große Teile der Jazz-Szene Mitte der Sechziger mit dem
Aufkeimen des Mittelasien-Fanatismus einiger Rockbands ebenfalls
anfingen, die Welt der orientalischen Tonleitern, Rhythmen und
Instrumente zu entdecken, war in vielerlei Hinisicht eine absehbare
Entwicklung und eine Sache, die damals auch kommerziell aussichtsreich
erschien. Wo jemand wie George Harrison in der Hinwendung dazu aber ein
Werkzeug spiritistischer Klarheit und seelischer Reinigung sah, war das
Interesse der Jazzer an vielen Punkten doch eher technischer Natur und
die Begeisterung galt vor allem den vielen neuen Horizonten, die das
exotische Material kompositorisch brachte. Was sich dann unter anderem
in einem Album wie Indo-Jazz Suite äußerte, das nebenbei bemerkt eine der ganz wenigen wirklich gelungenen Unternehmungen in diesem Bereich ist. Und vor allem funktioniert dieses Crossover hier auch deshalb, weil hier Musiker wirklich die technischen Elemente mittelasiatischer Notenlehre respektieren und eben nicht versuchen, hier radebrechend westliche Jazzstandards mit Sitarbegleitung einzuspielen. Das Ergebnis: Ein sehr sinfonisches und meditatives Album, das auf unterhaltsame Weise tatsächlich das beste aus beiden Welten repräsentiert und allein deshalb so dermaßen gut gealtert ist.
Ein Song zum auschecken: Overture
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
29.
JOHN LEE HOOKER
HOWLIN' WOLF
MEMPHIS SLIM
MUDDY WATERS
SONNY BOY WILLIAMSON
the Real Folk Blues
Chess
Blues /// Ich
hatte ja zuerst überlegt, hier jedes einzelne dieser fünf Alben separat
zu listen, doch wäre das letztlich eher sinnlos gewesen. Denn obwohl
sicherlich jede einzelne dieser Platten individuelle Qualitäten hat, die
sie toll und besonders machen und wir hier ja auch von fünf
unterschiedlichen Künstlers mit unterschiedlichen Stilen sprechen,
überwiegen am Ende die Gemeinsamkeiten: Jeder dieser Longplayer steht
für eine Veröffentlichung älterer Archivarbeiten der jeweiligen Musiker
(die zu diesem Zeitpunkt allesamt beim legendären Label Chess Records
unter Vertrag standen), die vor allem deshalb veröffentlicht wurden, um
aus dem damaligen Blues-Revival im Zuge der British Invasion Profit zu
schlagen und ein junges Publikum für die Klassiker des Genres zu
begeistern. Was sie dabei jedoch langfristig schaffen ist, hier in
Form einer einzigen Albumserie sowas wie das ultimative 101 des
legendären Chess-Katalogs mitzuliefern und damit ein fantastisches
Standardwerk zu schaffen, das für Neugierige ebenso gut funktioniert wie
für Komplettist*innen und Sammelbegeisterte. Für letztere leider auch
ein bisschen deshalb, weil es das Ding nach wie vor nicht als gescheites
Gesamtboxset gibt, was ich echt ein bisschen schade finde. Das ist dann
aber auch das einzig effektiv schlechte, was ich über dieses Projekt sagen kann.
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
28.
TAGES
2
Platina
Beat /// In vielen Ländern der Welt sorgte der Durchbruch der Beatles und die daran anschließende British Invasion Mitte der Sechziger für junge Bands, die diesen Sound mehr oder minder nachahmten, in wenigen davon wurde das ganze aber so hochwertig betrieben wie in Schweden, wo diese Art von Musik tatsächlich Leute spielten, die ein bisschen mehr konnten als ihre Instrumente richtigherum zu halten und auch wirklich gute Songs schrieben. Tages aus Göteborg waren eine davon und obwohl man auf ihrem zweiten Album schon noch sehr viel glasklaren Beatles-Kopismus und gängige Standards hört (Eines der Highlights: Das denkbar weißeste Cover von James Browns I Got You (I Feel Good)), ist dieser technisch auf einem sehr ansprechenden Niveau und macht trotzdem jede Menge Spaß. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die Melodien hier sehr eingängig sind und Tages mit Tommy Blom und Göran Lagerberg zwei Sänger und Songwriter haben, die als Duo extrem gut harmonieren und nicht nur schrammeln und rumschreien. Was hier immerhin schon mal für ein echt stimmiges und empfehlenswertes Albumerlebnis reicht, das die klassische Beatlemania von ihrer internationalen Schokoladenseite zeigt.
Ein Song zum auschecken: In My Dreams
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
27.
DOC WATSON
Southbound
Vanguard
Folk /// Wenn
man über den Künstler Doc Watson eines mit Sicherheit behaupten kann,
dann dass er Zeit seines Lebens Musiker von ganzem Herzen war und vor
allem in der Welt des Country und Folk ein wichtiges Original sein
dürfte. Bekannt war der seit seiner Jugend blinde Musiker vor allem für
seinen charakteristischen Fingerpunking-Stil und seine tiefgreifende,
historistische Verehrung für die Tradition des amerikanischen
Volkslieds, die beide auch auf seinem prägendsten Album Southbound
eine Rolle spielen. Zwar sind mir die wenigsten der Tracks auf der LP
als gängige Standards bekannt, was vielleicht aber auch besser so ist.
Denn Watson verkauft diese hier in vielen Momenten so, als wären es
seine eigenen und haucht ihnen performativ jede Menge Persönlichkeit
ein, die nicht zuletzt auch durch seine brilliante und nicht selten
atemberaubend zackige Technik überzeugt. Man muss dazu definitiv sagen,
dass ein Album wie dieses sicherlich nicht für jeden Geschmack ist und
man zumindest eine gewisse Toleranz für schmalzige Countryklischees
mitbringen sollte, um das hier gut zu finden. Für diejenigen, die das
können, ist Southbound aber ein Füllhorn an toll gespielten und
leidenschaftlich intonierten Folksongs.
Ein Song zum auschecken: Never No More Blues
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
26.
MUDDY WATERS
Down On Stovall's Plantation
Testament
Blues /// Nachdem Muddy Waters zwei Jahre zuvor auf Folk Singer
seinen Weg zurück zum traditionellen Blues gefunden hatte und die
Stimmung generell gerade wieder sehr Blues-optimistisch war, ging es
1966 im umfangreicher Weise an die Archivaufnahmen des Genreveteranen,
von denen von unterschiedlichen Labels gleich zwei Compilations
veröffentlicht wurden. Das wesentlich bekanntere dieser Releases dürfte
dabei definitiv seine Ausgabe der Real Folk Blues-Serie bei
Stammlabel Chess Records sein, doch auch bei Testament erschienen im
gleichen Zeitraum eine Neuveröffentlichung seiner ersten
Konservenaufnahmen für die Kongressbibliothek, die Anfang der
Vierzigerjahre von Alan Lomax aufgenommen wurden. Diese sind vor allem
deshalb bemerkenswert, weil Waters' Songs hier eigentlich nur für
dokumentarische Zwecke aufgezeichnet werden sollten und dadurch faktisch
sehr rohe und ungestellte Demos sind, gerade dadurch entfalten diese
aber auch eine ganz eigene Magie und sind gerade für Blues-Fans als eine
der Geburtsdokumente des Chicago Blues imminent wichtig.
Ein Song zum auschecken: Burr Clover Farm Blues
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
25.
SONNY BOY WILLIAMSON & THE YARDBIRDS
Sonny Boy Williamson & the Yardbirds
Fontana
Blues
/// Wisst ihr, was ich besonders schön an diesem Album finde? Die
Tatsache, dass jemand wie Sonny Boy Williamson, der 1963 (als dieses LP
ursprünglich aufgenommen wurde) schon eine Legende seines Fachs war,
diese Bande von englischen Rookies, die auf der anderen Seite des
Atlantik ebenfalls Bluesrock spielen, nicht als dämliche
Trittbrettfahrer verlacht, sondern sich ihrer annimmt und sie als
Backingband für dieses kleine Konzert engagiert. Die Band selbst, die
wenige Jahre später als Sprungbrett für Acts wie Cream und Led Zeppelin bekannt werden sollte, sind hier
tatsächlich nicht mehr als talentierte Begleitmusiker, die noch vor
ihrer ersten Veröffentlichung stehen, doch ist das Ereignis
musikhistorisch nicht unspannend. Letztlich vor allem deshalb, weil
Williamson hier mit einem jungen Eric Clapton auf der Bühne steht, der
die Fackel des Blues später noch an ganz andere Orte tragen wird als
Williamson oder irgendeiner seiner Zeitgenossen. Mehr als ein
denkwürdiges Album ist das hier aber vor allem auch ein gutes Album, das
für die Verhältnisse dieser relativ spontanen Aufnahme (man kann ja von
Glück reden, dass sie überhaupt existiert) echt fantastisch gemacht ist
und auch nach wie vor ziemlich tight klingt. Falsch machen kann man
hier also nichts, egal ob man es nun wegen Williamson oder wegen der
Yardbirds hört.
Ein Song zum auschecken: 23 Hours Too Long
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
24.
BERT JANSCH
Jack Orion
Transatlantic
Folk /// Der britische Folksongwriter und Akustikbarde Bert Jansch belegt in der Geschichte der Rockmusik den klassischen Platz eines Musikers, der vor allem von andere Musiker*innen gemocht wird und trotz seiner verhältnismäßig geringen Bekanntheit anscheinend einen immensen Einfluss auf unser heutiges Verständnis von Gitarrenrock hat. Namhafte Legenden wie Jimi Hendrix, Jimmy Page, Nick Drake und Donovan nannten den Londoner als wesentlichen Einfluss und vor allem die verschnörkelt-simplizistische Spieltechnik, die er in den Sechzigern vordachte, lässt sich als markanter Blueprint bis heute wiederfinden. Wo seine frühen Platten aber vor allem durch ebendiese technischen Aspekte interessant sind und mich als Laien deshalb eher weniger beeindrucken, ist Jack Orion tatsächlich auch ein Album, auf dem er seine Chops als Songwriter spielen lässt und seinen Fingerabdruck auf der Leinwand des Folk Revival hinterlässt. Mit einer Mischung aus instrumentalen Vignetten, tollen Storytelling-Momenten und stimmig interpretierten Standards baut Jansch hier ein sehr intimes Stück Musik, das nicht zuletzt durch seine sehr rohe Aufnahmetechnik besticht (die sich vor allem auf dem aufwändigen Remaster von 2015 nochmal sehr beeindruckend zeigt) und auch sehr deutlich klar macht, woher vor allem Nick Drake viele seiner Ideen hatte.
Ein Song zum auschecken: Jack Orion
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
23.
THE YARDBIRDS
Yardbirds (Roger the Engineer)
Columbia
Bluesrock
/// Es ist eine ziemlich spannende Sache, dass wir auf dieser Liste
gleich zwei Alben der Yardbirds stehen haben, zwischen deren jeweiligen
Aufnahmen gut und gerne drei Jahre Unterschied und damit ein gehöriges
Stückchen künstlerische Entwicklung liegen, das man an diesen beiden
Platten auch gut ablesen kann. Wo die Londoner auf ihrem Prä-Debüt mit
Sonny Boy Williamson von 1963 noch primär eine sehr traditionsbewusste
Backingband sind, die das Erbe des amerikanischen Blues lediglich
ziemlich gut imitiert, sind sie spätestens auf Roger the Engineer
(was eigentlich nur der inoffizielle Titel ist, sich aber historisch
ähnlich verhält wie beim weißen Album der Beatles oder ähnlichen Sachen)
eine Formation, die ihre ganz eigene Identität in diesem Genre gefunden
ist, die folglich auch eine ganz andere Sozialisation wiederspiegelt.
Denn klar hört man hier irgendwie noch den Einfluss der Altvorderen aus
den Staaten, wesentlich stärker geprägt ist das hier aber vom britischen
Ableger des Sounds, den einige Jahre zuvor die Beatles und Stones
einführten und an einigen Stellen auch schon ganz schön psychedelisch.
Und wenn man bedenkt, dass ungefähr zu diesem Zeitpunkt ein gewisser
Eric Clapton gerade die Band verlassen hatte um eine neue Namens Cream
zu gründen und ein gewisser Jimmy Page bald seinen Platz übernehmen
sollte, fügt sich eine Platte wie diese doch sehr geschmeidig in das
evolutionäre Puzzle der Sixties-Rock ein, von dem es dann sicherlich auch
kein so unwichtiger Teil ist.
Ein Song zum auschecken: Jeff's Boogie
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
22.
FRANCE GALL
Baby Pop
Philips
Yé-Yé /// Man
könnte argumentieren, dass die Zeit der größten Hits von France Gall
1966, nachdem sie ein Jahr zuvor für Luxemburg den Grand Prix
d'Eurovision gewonnen hatte, eigentlich langsam vorbei war und Baby Pop
nur die letzte große Platte vor einigen größeren Flops darstellt, die
auch nicht mehr über so langlebige Hits wie zuvor verfügt und ein
bisschen beliebig ist. Was mich bei alledem aber von ihr überzeugt ist,
dass sie für ihre Verhältnisse seine sehr kohärente und in sich stimmige
LP ist, die eben nicht nur über einzelne starke Singles verfügt,
sondern auch in den Deep Cuts (wenn man die bei 29 Minuten Spielzeit so
nennen kann) ziemlich fasziniert. Und klar muss man sich dabei drauf
gefasst machen, dass Gall keine künstlerisch versierte Chansonniere ist
(sie war zu diesem Zeitpunkt gerade Mal 18) und selbst für die
Verhältnisse der schon reichlich überzuckerten Yé-Yé-Trendbewegung
reichlich lolitahaft und teenieschwarmig rüberkommt. Wenn man das jedoch akzeptieren kann und vielleicht auch ein bisschen nach dieser Form von
seichter Unterhaltung sucht, ist Baby Pop das eine Album aus dieser Zeit, auf das ich in positivem Sinne verweisen kann. Abgesehen von ihren großen Hits natürlich.
Ein Song zum auschecken: Nous Ne Sommes Pas des Anges
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
21.
FRANK SINATRA
Sinatra at the Sands
Reprise
Swing
/// Schon auf seinen Studioplatten ist der unverblümte Charme des Frank
Sinatra eine Sache, der ich immer ein bisschen gegen meinen Willen
verfalle und man kann sich nur vorstellen, wie schlimm das ganze wohl
live und in Farbe gewesen sein muss. Einen ziemlich guten Einblick gibt
mir aber auf jeden Fall diese Aufnahme aus dem Sands in Las Vegas, von der
aus sich das unvergleichliche Mojo des Sängers trotz über 50 Jahren
Abstand und der Verbannung auf Konserve gefährlich überträgt. Das liegt
durchaus auch an der großartigen Besetzung seiner Band mit Legenden wie
Count Basie und Quincy Jones, Fokuspunkt und faszinierendstes Element
ist aber in jedem Moment Sinatra selbst, der - und ich kann es
tatsächlich nicht anders sagen - einfach durchweg rasiert. Absolut jede
seiner Gesangsperformances während dieser Show könnte genausogut als One
Take auf Platte gepresst werden und wenn er gerade mal nicht singt,
brilliert er als charismatischer Entertainment-Allrounder, der im
Mittelteil sogar eine umfangreiche Standup-Nummer zum Besten gibt und
fachmännisch das Publikum umgarnt. Wo letzteres aber sicherlich auch ein
bisschen Geschmackssache und teilweise nicht ganz optimal gealtert ist,
ist Sinatra at the Sands musikalisch vor allem eines: Ein
ziemlich guter Rundumschlag der Greatest Hits seiner Karriere im Rahmen
einer großartigen Live-Show, die für langjährige Fans genausogut funktionieren
sollte wie als Einstiegsmaterial.
Ein Song zum auschecken: Come Fly With Me
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
20.
THE BEACH BOYS
Pet Sounds
Capitol
Barockpop /// Ich
könnte es mir einfach machen und an dieser Stelle einfach darüber
schreiben, was für ein visionäres und einflussreiches Album Pet Sounds
ist und hätte damit prinzipiell genauso Recht wie all die Anderen vor
mir, die genau diesen Aspekt immer wieder hervorheben. Weil ich für
diese Liste aber lediglich in Betracht ziehe, wie gut ich persönlich
eine Platte finde und wie sehr sie durch sich alleine überzeugt, rede
ich viel lieber darüber. Darüber, wie unglaublich detailliert diese
Songs in ihrer klanglichen Ausarbeitung sind und wie viele Layers an
kompositorischen Schnörkeleien die Beach Boys hier in jeder Sekunde
übereinanderschichten. Oder darüber, wie stimmig hier über die komplette
Spielzeit jenes bittersüß-melancholische Feeling durchgezogen wird, das
in meinen Augen extrem charakteristisch für dieses Album ist.
Letztendlich kommt es aber beides aufs gleiche raus: Seinen Leumund als
eines der beliebtesten Pop-Gesamtkunstwerke der letzten 70 Jahre trägt Pet Sounds
nicht umsonst und auch wenn ich persönlich es vielleicht nicht zu
meinen ewigen Superfavoriten sehe, kann ich doch sehr gut verstehen, wo
dieses Empfinden bei vielen herkommt.
Ein Song zum auschecken: Wouldn't It Be Nice
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
19.
SUN RA & HIS SOLAR ARKESTRA the Magic City
Saturn
Free Jazz /// Viele Jazzgrößen der frühen Sechziger versuchten 1966, sich am wachsenden Trend des Free Jazz festzuklammern und ebenfalls ihren Senf zur Bewegung dazuzugeben, wenige mit Erfolg. Und der einzige, der mit seinem Output in diesem Bereich wirklich nachhaltig überzeugte, war sowieso Freakvater und Weirdo-MVP Sun Ra, der auch in dieser Saison wieder unfassbar produktiv war. Sieben Alben mit mehr oder weniger aktuellem Material veröffentlichte er 1966 insgesamt, von denen the Magic City eines der frischesten und damit auch der wildesten war. Der siebenunszwanzigminütige Titeltrack wird bis heute von Genre-Fans als eines der definitiven Statements des Free Jazz gehandelt und enthält nicht nur hanebüchene kompositorische Hakenschläge, sondern vor allem auch einen der ersten Synthesizer-Parts, die ich in dieser Rubrik je besprochen habe. Und wo kopflastige Platten dieser Art auf ihrer B-Seite zumeist die Spannung ein bisschen runterdrehen und den Rest mit Füllmaterial ausstaffieren, kann man das auf diesem Album ebenfalls nicht behaupten und Sun Ra baut hier auch weiterhin eine großartige Kakophonie nach der anderen. Und damit insgesamt ein weiteres seiner wirklich großartigen Projekte aus dieser Zeit, die mich unfassbar begeistern.
Ein Song zum auschecken: the Magic City
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
18.
BILL EVANS
Bill Evans with Symphony Orchestra
Verve
Third Stream /// Bill Evans war für mich schon immer mehr klassischer Komponist als Jazzer, weswegen ich an vielen Stellen vielleicht auch etwas Berührungsängste mit seinem Output hatte. Ausgerechnet auf diesem Album, mit dem er sicherlich am meisten in den Bereich der sinfonischen Komposition ausschert, gewinnt er mich aber nochmal auf eine ganz neue Art und zeigt damit, dass genau in dieser Art von Crossover seine größte Stärke liegt. Dem zaghaften Klavierjazz, den ich auch schon auf seinen früheren Platten mochte, fügt er hier mit fantastisch ausgearbeiteter und arrangierter Orchestermusik genau den Touch hinzu, der diesen optimal ergänzt und am besten werden Songs wie Granadas oder Elegia folglich auch immer dann, wenn Evans zwischen diesen beiden Modi umschaltet. Wobei er im Gegensatz zu vielen Zeitgenoss*innen, die damals ähnliches versuchten, nie zu kitschig oder kommerziell klingt und immer den richtigen Ton erwischt, auch wenn er mal das große dramaturgische Besteck anpackt. Wenn man mich fragt eines der wenigen wirklich gelungenen Alben im Balanceakt zwischen Klassik und Jazz.
Ein Song zum auschecken: Granadas
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
17.
THE SEEDS
the Seeds
GNP Crescendo
Garagenrock /// Zumindest was ihre Attitüde angeht, waren the Seeds 1966 ziemlich ihrer Zeit voraus. Schon auf dem Cover ihres selbstbetitelten Debüts haben die Kalifornier längere Haare als die Stones und sehen bereits aus wie eine der Acidrock-Gruppen aus der Hippiezeit und hört man sich erstmal ihre Songs an, so sind diese auch eher wild und rebellisch als sauber komponiert und psychedelisch verschnörkelt wie die meisten Sachen zu dieser Zeit. Klanglich gesehen findet man ihre Andockpunkte folglich auch eher im Rock'n'Roll und Blues der späten Fünfziger, was sie zu einem klassichen Fall der Garagen-Außenseiter macht, die während dieser Zeit die Trends zur Barockisierung und Veredelung des Beat verweigerten und damit zwar kurzfristig im Abseits landeten, später aber von den Pionieren des Punk wieder aufgegriffen und zu klanglichen Visionären erkoren wurden. Wobei besonders diese LP hier ein wichtiger Fokuspunkt für diese Beeinflussung ist, da es nicht nur ihr dreckigstes und rabiatestes ist, sondern auch über jede Menge grandiose Songs verfügt, von denen aus man quasi eine direkte Linie zu Bands wie den Stooges oder den Ramones ziehen kann.
Ein Song zum auschecken: Try to Understand
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
16.
ADRIANO CELENTANO
Il Ragazzo Della Via Gluck
Clan Celentano
Singer-Songwriter /// Adriano
Celentano ist schon lange einer meiner absoluten Leidenschaftsmusiker
und ihn hier zum ersten Mal aufzuführen, macht mich schon allein deshalb irgendwie happy.
Und Il Ragazzo Della Via Gluck wird auch ganz bestimmt nicht das
letzte Mal sein, dass das passiert. Als schlageresker Teenieschwarm
Anfang der Sechziger in Italien durchgestartet, war es dieses Album, auf
dem er 1966 langsam seine Chops als ernstzunehmender Songwriter
entdeckte und erstmals Musik aufnahm, die etwas verspielter und
kreativer war. Ergebnis sind dabei viele seiner langlebigsten und
prägensten Klassiker wie Ciao Ragazzi, Sono Un Simpatico
oder der Titelsong, mit denen er nicht nur elementare
Italopop-Dauerbrenner auf Platte bannt, sondern sich vor allem auch als
Texter weiterentwickelt und mehr schreibt als nur ein paar schnelle
Schmonzetten (so weit ich das mit den wenigen Übersetzungen der Lyrics
beurteilen kann, die mir hier zur Verfügung stehen). Das beste an Via Gluck
ist aber definitiv, dass diese LP in der bunten und aufregenden
Diskografie des Milanesen nicht mehr ist als ein Sprungbrett, von dem
aus der spannendste Teil seiner Karriere erst beginnt.
Ein Song zum ausschecken: Ciao Ragazzi
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶
15.
LOVE
Love
Elektra
Garagenrock /// Musiknerds reden sehr gerne darüber, wie sehr Love als wegbereitende Band der psychedelischen Ära doch unterschätzt sind, meistens ist die Rede dabei aber ausschließlich von ihrem 1967er-Album Forever Changes, das inzwischen allein durch dieses Narrativ eine Art Klassiker geworden ist. Dass aber schon ihr selbstbetiteltes Debütalbum aus der Saison davor nicht von schlechten Eltern war und insbesondere für den US-amerikanischen Ableger der Garagen-und-Beat-Generation viel richtig machte, wird immer wieder unterschätzt. Und auch ich musste durch die Beschäftigung mit ihrem jüngeren Output hier erstmal darauf kommen. Zwar spürt man hier noch relativ wenig von der visionären Natur späterer Platten und nach ihrer Zeit klingen die Kalifornier hier auf jeden Fall noch sehr, in der Riege trendiger Garagenprojekte aus dieser Periode ist diese LP aber durchaus bemerkenswert. So gut wie jeder der 14 Tracks hier ist eingängig und hat jede Menge Charakter, noch dazu haben Love ein beachtliches Händchen für gute Pop-Standards (ihre Versionen von Hey Joe und My Little Red Book sind Highlights dieser LP) und sind für ihre Verhältnisse klasse produziert. Und dass man dabei meistens nicht heraushört, dass sie nicht aus Großbritannien kommen, würde ich in diesem Fall eher als Feature denn als Nachteil bezeichnen. Immerhin bedeutet das ja, dass sie damit ziemlich am Puls der Zeit waren.
Ein Song zum auschecken: My Little Red Book
✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶