Montag, 31. Januar 2022

Warm und grau

TOCOTRONIC
Nie wieder Krieg
Vertigo
2022
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ heilsam | poetisch | edel ]

Bevor ich an dieser Stelle irgendeine Sache über das neue Album von Tocotronic loswerde, ist es mir ein persönliches Bedürfnis, hier auch nochmal mit einigen Dingen aufzuräumen, die ich ungefähr um dieselbe Zeit vor vier Jahren über die letzte LP der Hamburger schrieb und die in meinen Augen einem perspektivischen Update bedürfen. Soll heißen, dass obwohl ich Die Unendlichkeit nach wie vor als ein tolles Album empfinde und Tocotronic hier einige ihrer besten Titel untergebracht haben, meine Euphorie bezüglich dieser Platte seitdem doch merklich abgeflaut ist und ich das Ding inzwischen nur noch stellenweise bemerkenswert finde. Eine Veränderung meiner Ansichten, die letztlich auch für seinen Nachfolger nicht unwichtig ist, da dieser sich mit besagter letzter Platte am Ende doch sehr viele Attribute teilt. Sei es ein verstärkter Hang zur Konzeptualität (auch zwischen den einzelnen Tracks), eine lyrische Hinwendung zu Lebensgeschichten und biografischen Dramen oder auch nur eine instrumentale Palette mit auffällig vielen Ähnlichkeiten. Dass Nie wieder Krieg also nicht nur chronologisch ein Nachfolger zu Die Unendlichkeit ist, liegt irgendwie nahe. Selbst wenn beide Alben das thematisch gesehen eigentlich nicht vermuten lassen. Denn nachdem sich die Band und vor allem Frontmann Dirk von Lowtzow zuletzt sehr autobiografisch betätigte und eine poetische Form der persönlichen Nabelschau präsentierte, transferiert er dieses Songwriting nun auf Geschichten anderer Charaktere, die eher lose definiert werden. Wobei ich auch gleich an dieser Stelle sagen kann, dass sich mir diese Art von narrativer Gestaltung doch eher selten übersetzt und Nie wieder Krieg am Ende eher wieder so unkonzeptuell und locker wirkt wie viele Tocotronic-Platten aus den Zwotausendern. Was natürlich auch meine anfänglichen Hoffnungen zerstört, das hier würde die Art vordergründig politischer LP werden, die Songs wie Hoffnung und Jugend ohne Gott gegen Faschismus zuvor leicht anteaserten. Ein Problem sehe ich darin aber prinzipiell nicht, zumal viele der Singles aus der letzten Zeit ja trotz allem richtig cool waren. Und auch 2022 bleibt der zutiefst beruhigende Grundsatz bestehen, dass diese Band anscheinend keine ernsthaft enttäuschende Platte machen kann und auch nach fast drei Jahrzehnten nicht in ihrem eigenen Klischee versandet. Innerhalb dieses Grundsatzes muss ich dann allerdings doch sagen, dass Nie wieder Krieg unter den vielen fantastischen Tocotronic-Alben der letzten 20 Jahre eher zu den schwächeren gehört. Auch wenn das letztlich nur heißt, dass vielleicht nicht jeder Track hier einen glasklaren Mehrwert für mich hat und es ein paar Stücke wie Ein Monster kam am Morgen oder Ich gehe unter gibt, die dann doch ein bisschen zu sehr nach Füllmaterial klingen. Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich auch wieder vereinzelte Highlights wie Ich tauche auf mit einer wunderbaren Anja Plaschg oder das hymnische Hoffnung mit seinem versöhnlichen Imagine-Faktor, mit denen Tocotronic sich mal wieder selbst übertreffen. Und obwohl diese hier eher vereinzelt stattffinden und als klare Spitzen leicht zu identifizieren sind, sind die soch die wichtigen Punkte, die mir zeigen, dass die Hamburger hier kein egales Album schreiben. Denn so ungern ich das als Fan dieser Band auch zugebe, ein bisschen ist Nie wieder Krieg das insgesamt schon geworden. Zwar mit kaum effektiv schlechten Momenten und einer grundlegend okayen Gesamtleistung, aber auch vielen Stellen, die Tocotronic schon mal besser gemacht haben oder zumindest definitiv besser können. Und an dieser Stelle ist es dann doch wieder ziemlich cool, dass man in der Hinterhand eine Platte wie Die Unendlichkeit als Referenz hat, die diese Diskrepanzen relativ deutlich aufzeigt und am Ende viele Ideen dieser LP einfach schonmal ein bisschen cooler umsetzte. Wobei ich von mehr als einem kurzen Formtief hier auch nicht ausgehe und Nie wieder Krieg letztlich wenig mehr als ein kleiner Aussetzer in einer der musikalisch besten Phasen der Hamburger sein dürfte. Und den Eindruck, dass diese Gruppe weiterhin beneidenswert neugierig Musik macht und sich stetig entwickeln will, hat dieses Album nicht im geringsten zu ersticken vermocht. Weshalb ich in Sachen Tocotronic auch weiterhin grundsätzlich optimistisch bin und mittelfristig wahrscheinlich auch hier meine Favoriten finden werde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Nie wieder Krieg | Ich tauche auf | Ich hasse es hier | Crash | Hoffnung | Liebe

Nicht mein Fall
Ich gehe unter | Ein Monster kam am Morgen


Hat was von
Thees Uhlmann
Junkies & Scientologen
 
Vierkanttretlager
Die Natur greift an
 
 

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