Mittwoch, 12. Januar 2022

Bissiger Hund

OG KEEMO
Mann beisst Hund
Chimperator
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ biografisch | erzählerisch | traumatisiert ]

Um an dieser Stelle direkt mal mit der Tür ins Haus zu fallen und ohne Umschweife zu sagen, was Mann beisst Hund für ein tolles und besonderes Album ist: Es fühlt sich schon in diesem Moment sehr komisch an, es hier unter der Stilbezeichnung Deutschrap zu führen, die es in meinen Augen ziemlich limitiert. Klar, grundsätzlich reden wir hier von einem eindeutig zu identifizierenden Hiphop-Projekt, das alle üblichen Genre-Parameter sehr traditionell ausführt und darüber hinaus in deutscher Sprache verfasst ist. Was mich an dieser Einordnung stört ist viel eher, wie wenig Mann beisst Hund in die gängige Kulturlandschaft passt, die Deutschrap eben nicht nur als Rap auf deutsch bezeichnet, sondern als eine eigene Stilistik mit autarken Elementen und Gepflogenheiten. Eine Kulturlandschaft, von der diese LP in vielen Punkten kein Teil ist und von dem sie vermutlich auch gar kein Teil sein will. Denn was OG Keemo hier macht, büchst dem gängigen Verständnis dessen, was Deutschrap sein kann, schon in den ersten Sekunden des Intros aus und ist stattdessen ein Beispiel dafür, was Rapmusik leisten kann, wenn sie sich von den Gewohnheiten einer Szene löst und tatsächlich ihr volles Potenzial entfaltet. Sowohl inhaltlich als auch musikalisch. Ich will damit keinesfalls sagen, dass Hiphop-Alben wie dieses hier vorher nicht existiert hätten, thematisch gesehen ist Mann beisst Hund sogar einigermaßen konservativ. Nur kenne ich Herangehensweisen und Themen wie diese bisher lediglich von ein paar ausgewählten Klassikern des US-amerikanischen Hiphop und bin außerdem der Meinung, dass OG Keemo hier durchaus einen sehr individuellen Spin dazu formuliert, der die Sache erst richtig interessant macht. Wobei ich das mit der Individualität auch tatsächlich wörtlich meine, denn in erster Linie ist Mann beisst Hund ein Album, das sich ausführlich mit der Biografie seines Schöpfers auseinandersetzt und sehr intensiv dessen Vergangenheit beleuchtet, die sich auf den ersten Blick liest wie das typische Hiphop-Klischee: Typ mit Migrationshintergrund gerät in seiner Jugend auf die schiefe Bahn, macht irgendwas mit Drogen und kriegt Stress mit dem Gesetz, findet danach jedoch seinen Weg nach draußen und wird erfolgreicher Musiker - Happy End. Nur dass Mann beisst Hund eben genau das nicht ist. Denn obwohl es in seiner knappen Stunde Spielzeit mehr oder weniger genau diese Story erzählt, ist diese bei OG Keemo alles andere als eine Erfolgsstory. Weil wir es hier mit einem Künstler zu tun haben, der mehr erzählen will und das auch macht. Weshalb dieses Album nicht nur narrativ verdichteter ist und sich stellenweise anhört wie Exzerpte aus einem Debütroman, sondern auch kein so einfaches Ende zulässt. Denn indem Keemo hier aus der Perspektive seines heutigen Selbst auf eine bestimmte Phase in seinem Leben zurückblickt, findet er vor allem heraus, wie wenig er mit selbiger eigentlich abgeschlossen hat und wie sehr sie noch immer sein Leben prägt. Und um dieses Gefühl zu vermitteln ist er in diesen Songs nicht nur Erzähler, sondern vor allem auch Charakter, der seine Jugend hier vor unseren Augen Revue passieren lässt und erst am Ende wirklich in der Gegenwart ankommt. Wobei die Umsetzung dieses Narrativs hier das eigentlich clevere ist, denn Keemo versteht sich darauf, das ganze spektakulär zu inszenieren. Direkt mit dem Intro Anfang springt das Album in eine nacherzählte Szenerie, in der der Protagonist (hier mindestens einmal bezeichnet als Karim, was auch Keemos Vorname ist und mich zu dem Schluss kommen lässt, dass es hier tatsächlich um seine Geschichte geht) zwei Typen namens Malik und Yasha begegnet, die im Laufe des Albums immer wieder als wichtige Konterparts des Erzählers auftreten. Malik ist etwas älter als Karim, verdingt sich als Ticker und baut sehr schnell ein Vertrauensverhältnis zum Hauptakteur auf, während Yasha ein etwas ruhiger und schluriger Typ ist, der eher als Mitläufer charakteristert wird. Am Ende des ersten Songs brechen die drei schließlich gemeinsam einen Honda Civic auf, der in den nächsten Songs zur Metapher für die krummen Dinger wird, die die beiden von hier ab regelmäßig drehen. Ungefähr an dieser Stelle kommt auch das erste Mal die titelgebende Mann-Hund-Metapher ins Spiel, die anhand vieler Skits im Laufe des Albums immer wieder erweitert wird und die sich vor allem mit verschiedenen Ansichten von Moral, Macht und Verantwortung auseinandersetzt. Zur Erinnerung: An diesem Punkt sind gerade Mal acht Minuten dieser LP vergangen. Und noch etwas fällt sicherlich nicht nur mir auf: Wer an dieser Stelle eventuell schon Parallelen zu einem kleinen Nischenrelease namens Good Kid, m.A.A.d. City von Kendrick Lamar erkannt hat, ist dabei auf jeden Fall schon mal auf einem ganz guten Dampfer, denn auch Mann beisst Hund ist an vielen Stellen erzählerisch sehr ähnlich konstuiert: Es gibt viele sehr kurzgeschichtenhaften Stücke wie eben Anfang, die unmittelbare Szenen nachstellen und chronologisch verfolgen, andere Songs sind aber auch eher klassisch themenbezogen und offenbaren erst durch ihre Positionierung in der Tracklist ihre eigentliche Bedeutung. Wobei man die gesamte Platte grob in drei Kapitel einordnen kann: Zum ersten die Rückschau in Maliks Jugend, die vor allem von grantigen Bangern und hedonistischen Bragrap-Lines geprägt wird, eine Übergangsphase im Mittelteil, in der es viel ums Erwachsen werden und Verantwortung übernehmen, aber auch um Traumata geht, sowie ein Abschlussteil, in dem der Keemo von heute sich auf diese Zeit bezieht und eine harte Bilanz mit sich selbst verfasst. Das fantastische dabei: Jeder Song trägt unglaublich viel zum Gesamtnarrativ bei und findet in der Story selbst eine sehr individuelle Perspektive. So sind beispielsweise Malik und Big Boy im ersten Kapitel zwei sehr gegensätzliche, aber dennoch spaßige und rotzige Songs über die Charaktere der beiden Hauptrollen, in Vertigo und Suplex beginnt die Stimmung jedoch zu kippen und es rücken stärker Ernsthaftigkeit und konkrete Konsequenzen des jugendlichen Leichtsinns in den Vordergrund. Hier ist Keemos titelgebender Hund dann öfter auch mal die archaische Vorstellung des ungezähmten Raubtieres, das in einer Welt ohne Regeln überleben muss, wobei viele Metaphern von Gewalt hier sicherlich nicht von ungefähr kommen. Direkt danach springen 2009 und Petrichor allerdings in den Moment, als der Protagonist sich von dieser Lebensweise abwendet und damit ganz smooth in den zweiten Teil der LP. An dieser Stelle wird der bisher sehr konkrete Handlungsstrang von Mann beisst Hund spürbar diffuser und Keemo spricht weniger über Ereignisse als vielmehr über Empfindungen, was aber auch eine spannende Abwechslung ist. Denn nicht nur spürt man dadurch, wie seine Figur in den Songs reift, es setzt auch die Basis für Songs wie Sandmann oder Regen, in denen anschließend die Traumata behandelt werden, die Karim aus dem ersten Teil mitnimmt. Besonders ersterer Track ist dabei keine leichte Kost und malt als einziges Stück der Platte fast schon ein bisschen ein Horrorszenario. Wobei das in Sachen schwere lyrische Kost auch nur die Vorstufe zu dem ist, was Keemo im letzten und meiner Meinung nach besten Teil des Albums auffährt, der diese LP wirklich zu einem derart besonderen Stück Musik macht. Den Beginn macht dabei der Song Vögel, in dem Karim in einem erneut sehr kurzgeschichtenhaften Text in seinen alten Block zurückkehrt und dabei Erinnerungen wälzt, die wenig nostalgisch und noch immer stark vom Trauma des Erlebten gefärbt sind. An dieser Stelle nimmt der Keemo von heute auch erstmals als Erzähler Position ein und zieht ein Resümee aus dieser Zeit, das am Ende des besagten Tracks zum sicherlich stärksten Moment des ganzen Albums führt, als er selbst auf dem Hochhausdach stehend seine Vergangenheit verflucht und darüber sinniert, was hätte anders laufen können. Und eigentlich wäre hier bereits ein Moment erreicht, an dem Mann beisst Hund einen guten Schluss setzen und uns in die Gegenwart entlassen könnte. OG Keemo ist aber noch lange nicht fertig mit erzählen und hängt mit Töle gleich noch einen weiteren seiner besten Songs hintenan. Hier rappt er wiederum aus der Perspektive seines Vergangenheits-Ichs, das dem heutigen Karim vorwirft, seine Prinzipien verraten und die Gang im Stich gelassen zu haben. Die Nummer ist im besten Sinne ein Disstrack an den Erzähler selbst, der relativ zum Schluss noch einmal den Konflikt heraufbeschwört, der in diesem Menschen noch immer existiert. Und auch die letzten beiden Songs sind für den Kontext des Albums nochmal wichtig, auch wenn sie definitiv nach seiner eigentlichen Handlung spielen. Blanko ist dabei vor allem auffällig, weil hier mit Kwam.E zum ersten und einzigen Mal auf Mann beisst Hund ein anderer Rapper zu hören ist, der den ganzen Kontext nochmal auf eine andere Weise ins Abseits verpflanzt und damit eine gegenwärtige Perspektive aufbaut, Ende macht als Closer anschließend den Deckel endgültig mit einem weiteren Storytelling-Part zu, den Keemo aus einer Situation wenige Wochen vor dem Release des eben gehörten Albums heraus formuliert. Was diesen letzten Teil für mich noch einmal so besonders macht ist die Art, wie die Platte mich am Ende ihrer langen Erzählung wieder in die Jetztwelt zurückholt, in der es auch nochmal um die (anscheinend sehr langwierige und aufreibende) Arbeit an diesem Mammutprojekt geht und ich zum Schluss auch darin nochmal einen Einblick bekomme. Erwähnt wird an dieser Stelle im Text auch nochmal ausdrücklich Produzent Funkvater Frank, dessen großartigen Beitrag zu dieser LP hinter der Paradeleistung des Hauptakteurs ziemlich in den Hintergrund rückt, an dieser Stelle aber auch unbedingt nochmal angesprochen werden sollte. Nicht zuletzt deshalb, weil Mann beisst Hund sich auch hier keinen einzigen schwachen Moment leistet und auch musikalisch in jedem Beat und Instrumental das Meisterwerk ist, das lyrisch vorgelegt wird. Was mich an diesem Punkt ehrlich gesagt einfach nur ein bisschen baff macht und letztlich auch nicht wenig einschüchtert. Mann beisst Hund ist alles, was ich mir potenziell von einem neuen Album dieses Rappers hätte erhoffen können und zehnmal mehr, ganz zu schweigen davon, dass es direkt in der ersten Releasewoche von 2022 einen unvergleichlichen Senkrechtstart hinlegt. Hier elf Punkte zu geben, macht mich nicht zuletzt deswegen auch ein bisschen mulmig, weil so eine Bewertung natürlich einen Schatten auf fast alles wirft, was dieses Jahr noch musikalisch passiert. Ganz zu schweigen davon, dass ich diese spezielle Punktzahl eigentlich immer erst nach ein paar Jahren vergebe, wenn die Platte auch wirklich Zeit hatte, mittelfristig einen Eindruck zu hinterlassen. Warum ich in diesem Fall das Risiko eingehe und eine Ausnahme mache? Weil ich einfach lange kein Album mehr erlebt habe, dass mich direkt von Null auf so begeistert hat und das trotzdem mit jedem Mal hören besser wird. Und weil ich eine geringere Bewertung einfach nicht das wiederspiegeln würde, was ich gerade über diese Platte empfinde. Wenn sich das im Laufe der Saison noch ändert, war das eben vorschnell, aber in diesem Moment empfinde ich ehrlicherweise so. Und ich möchte gerne, dass alle es wissen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢🟢 11/11

 
Persönliche Höhepunkte
Anfang | Civic | Hund Skit | Malik | Big Boy | Vertigo | Mann Skit | Suplex | 2009 | Petrichor | Regen | Sandmann | Vögel | Ziller | Töle | Blanko | Ende

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Kendrick Lamar
Good Kid, m.A.A.d City

Boldy James
Manger On McNichols


1 Kommentar:

  1. #1 auf RYM für 2022 zum Zeitpunkt dieses Reviews. Guter Start ins Jahr für den deutschen Hip Hop.

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