Freitag, 16. Februar 2018

Dirks Version




















Als ich vor etwas weniger als drei Jahren meine Besprechung zum letzten Tocotronic-Album hier veröffentlichte, waren die Reaktionen einiger Leser*innen darauf eher weniger zustimmend. Insbesondere mit einem Fan führte ich danach eine ziemlich umfangreiche Debatte über den Output dieser Band, bei der besagte Person zu dem Schluss kam, dass ich das ja nicht verstehen könnte, weil ich zu jung dafür wäre. Und wo ich zu diesem Zeitpunkt über diese Aussage logischerweise etwas eingeschnappt war, muss ich eine LP später zugeben, dass sie damals wahrscheinlich Recht hatte. Ich hatte zwar nicht das Problem, dass ich diese Band nicht verstanden hätte oder sonstwas, aber mir fehlte wahrscheinlich die innere Ruhe, diese Botschaften auch toll zu finden. Fakt ist zumindest, dass ich vom Tocotronic-Skeptiker innerhalb weniger Jahre vielleicht nicht zum Fan geworden bin, aber zumindest den Status anerkennen kann, den sie in der deutschen Poplandschaft jetzt schon seit Ewigkeiten haben. Und dass ich im April 2018 das erste Mal ein Konzert der Hamburger besuchen werde, spricht ja wohl auch eine eindeutige Sprache. Das alles ändert aber nichts daran, dass ich im Vorfeld dieser neuen LP mal wieder ziemlich skeptisch war, was denn wohl hier passieren würde. Nach den letzten beiden Platten, die für mich eine neue Phase der Band darstellen, die sich mir bisher noch immer nicht so ganz erschließt, war das Eis, auf dem sich Tocotronic bewegten, noch immer nicht ganz sicher. Die erste Single Hey Du im Dezember fand ich losgelöst vom ganzen Kontext eher so lala und dass Dirk von Lowtzows Texte jetzt selbst so retrospektivisch geworden sind, war in der Theorie schon ein Problem. Denn nachdem sich der Journalismus spätestens beim roten Album sehr gezielt auf die Werdensgeschichte dieses scheinbar überlebensgroßen Acts stürzte, brauchte ich das jetzt nicht auch noch von ihnen selbst. Aber fehlgeleitet: Gerade die Tatsache, dass die Hamburger hier im Prinzip eine bereits erzählte Geschichte schreiben, macht Die Unendlichkeit zum sicherlich besten Projekt der Band in der aktuellen Dekade. Denn was ich dabei komplett unterschätzt habe ist, dass es sich bei diesen Leuten immer noch um Künstler handelt, die es schaffen, dieser Geschichte jede Menge poetische Perspektive verleihen, die man dann eben doch noch nicht kennt. Die gelebte Nostalgie der Texte von von Lowtzow ist eben genau der emotionale Kontrast zur sachlichen Historie des Journalismus, die auch jetzt noch spannend ist und die jede Menge Charakter ins Boot holt. Das Bedürnis nach Rebellion, Liebesgeschichten, eigene Zweifel, Ängste, Trauer und das alles. In dieser Hinsicht ist Die Unendlichkeit dann wieder sehr nahe am Vorgänger und fängt die Magie verschiedener Situationen unglaublich gut ein. Man darf aber auch nicht so tun, als wäre das alles die Leistung der Texte. Eine Sache, die diese LP für mich wirklich so viel attraktiver macht als die davor ist, mit wie viel Liebe Tocotronic hier die Musik geschrieben haben. Von der mystischen Jonny Greenwood-Streicher-Aleatorik im eröffnenden Titelsong über die garagige Gitarre in Hey Du und den Autotune-Refrain in 1993 bis zur fantastischen Orchestrierung in Unwiederbringlich ist dieses Album so voll mit tollen Songwriting-Schmankerln wie in meinen Augen zum letzten Mal die weiße Platte 2002. Dass die Hamburger so verspielt und kreativ sein können, hatte ich schon fast vergessen und es tut hier auf jeden Fall sehr viel zur Sache. Zwar ist die erste Hälfte der LP merklich bunter und bringt mehr dieser tollen kleinen Firlefänzchen ein, dass der Mittelteil mit Tracks wie Bis das Licht uns vertreibt und Ich würd's dir sagen verhaltener ist, passt aber auch einfach inhaltlich sehr gut. Und spätestens wenn sich die Band im vorletzten Stück Nineteen Hundred Ninety Three AD nochmal einen schmissigen Ausreißer gönnen, ist auch dieser Knoten geplatzt. Dass sie mit Über mich ganz am Ende noch den Kreis schließen können, ist dann schon fast ahnbar. Denn alles andere wäre auch kriminell bei so einem vollendeten Projekt. Das Vorhaben eines nostalgischen Albums, das ja in gewisser Weise auch schon das rote irgendwie war, haben Tocotronic auf Die Unendlichkeit zur ziemlichen Perfektion getrieben. Dass sie das gut können, hätte man sich inzwischen denken können, aber dass es so grandios wird, damit hätte ich nicht gerechnet. Ich war optimistisch, dass das hier irgendwie gut werden würde, aber dass sie eine der besten Platten ihrer gesamten Karriere machen, die sie erneut an ihrem jetzigen Standpunkt als Band definiert, das wagte ich nicht zu hoffen. Schön aber, dass es genau jetzt passiert, wo alles ein bisschen unklar war. Ganz zu schweigen davon, dass 2018 in meinen Augen jetzt sein erstes richtig großes Album hat.






Persönliche Highlights: Die Unendlichkeit / Tapfer & grausam / Electric Guitar / Hey Du / Ich lebe in einem wilden Wirbel / 1993 / Bis uns das Licht vertreibt / Ich würd's dir sagen / Mein Morgen / Schlittenflug / Die Verdammten / Nineteen Hundred Ninety Three AD / Über mich

Nicht mein Fall: -

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