Sonntag, 5. Februar 2017

Barfuß am Klavier

Es brauchte dieses Jahr nur einen einzigen Song, um den britischen Sänger, Songwriter und Produzenten Sampha Sisay in meinen Augen vom beliebigen Hook-Lieferanten, den ich von SBTRKT-Platten kannte, zu einem wahnsinnig talentierten Musiker werden zu lassen. Die packende Ballade (No One Knows Me) Like the Piano, die vor einigen Wochen im Netz auftauchte, war nicht nur vom ersten Moment an ein absoluter Hit, sondern schaffte es auch noch, auf dem stets schwierigen Territorium der Klaviersongs zu punkten wie lange keine andere Single mehr und außerdem eine inhaltliche Breitseite abzufeuern, die einen zu Tränen rühren konnte. In absolut jeder Hinsicht zeigte sich Sampha hier als Pop-Künstler von Welt und es würde mich nicht wundern, wenn dieses Stück bis zum Ende des Jahres bei mir nachhallt. So richtig interessant wurde es aber erst vorgestern, als endlich auch das Debütalbum des Briten erschien und zeigte, dass jener Song lediglich eine Facette seines Könnens darstellt. Process, so der Name des Erstlingswerks, macht das bsiher relativ unbeschriebene Blatt Sampha Sisay zu einer Art englischem Frank Ocean, und das komplett ohne Vorwarnung. Wie schon gesagt hatte ich von ihm bisher eher seine Identität als Feature-Gast von anderen wahrgenommen, die ehrlich gesagt nicht viel zu bieten hatte. Wo er auftauchte, wurde irgendeine inhaltlich nicht weiter aufwiegelnde Strophe plus Hook gesungen, die vor allem seine gesanglichen Qualitäten unterstrich und dann durfte der Mann auch wieder gehen. Alles in allem hinterließ er dabei selten einen bleibenden Eindruck. Dass seine tatsächlichen Talente dabei stets verschleiert wurden, fällt mir erst jetzt wie Schuppen von den Augen. Als Sänger ist dieser junge Mann zwar auch gut, doch das ist nichts im Vergleich zu dem, was er als Songschreiber und Produzent auf dem Kasten hat. Process ist eine Platte, auf der so gut wie jeder Track nicht nur ein Riesenhit ist, sondern auch so viel inhaltliche und klangliche Tiefe mitbringt, dass man sich fragen muss, warum dieser Typ bisher nicht aus allen Nähten geplatzt ist. Es gibt tanzbare Club-Nummern wie Blood On Me oder Reverse Faults, die die komplette UK Bass-Szene Huckepack nehmen, experimentelle Eigentümlichkeiten wie den Opener Plastic 100°C oder Under, die den R'n'B-Konsens immer mal wieder überlaufen lassen und geschickt eingestreut jene mitreißenden Powerballaden wie Take Me Inside oder natürlich Like the Piano, die mit Feels nur so um sich werfen. Und egal, was Sampha gerade macht, man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da taucht ein bisher eher kleiner Producer aus der Zweiten Reihe der Szene auf, räuspert sich kurz und steckt mit seinem ersten Album mal eben den britischen Mainstream in die Hosentaschen. Wahnsinn. Natürlich ist das hier am Ende auch nicht mehr als ein Pop-Album, aber wieder einmal wird uns hier eindrucksvoll gezeigt, dass das überhaupt nichts zu bedeuten hat, beziehungsweise was es bedeuten kann. Dass Sampha eingängige, kommerzielle Songs schreibt, hält ihn in keinem Moment davon ab, über die wahnsinnig komplexen Zusammenhänge des Lebens zu singen oder sich beim Sampling richtig auszutoben. Er ist einer der Leute, wegen denen man 2017 wieder stolz sein kann, Mainstream-Konsument zu sein. Und Process wird dabei sowas von sein Flagschiff werden. Schon jetzt sind ja alle Kritiker hin und weg von der Platte und im Laufe des Jahres wird da sicherlich noch einiges passieren, auf das wir gespannt sein dürfen. Meiner Meinung nach vollkommen zu Recht, denn mit diesem Output macht sich Sampha selbst zu einer der heißesten Nummern der gerade beginnenden Saison. Für mich ist er im Moment sogar einen Ticken cooler als Frank Ocean. Und das hat sich seit 2012 schon keiner mehr getraut.





Persönliche Highlights: Blood On Me / Kora Sings / (On One Knows Me) Like the Piano / Take Me Inside / Reverse Faults / Under / What Shouldn't I Be?

Nicht mein Fall: -

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