Montag, 13. Mai 2024

Rage Review: Eurovision Song Contest 2024

Mit dem Sieg von Nemo vorgestern könnte man meinen, dass es für den ESC in diesem Jahr letztlich doch noch ein versöhnliches Ende gab. Es gewinnt die Kandidatur einer nonbinären Künstlerperson für die Schweiz mit einer starken Geschichte über Identitätsfindung und einem inhaltlich wie technisch beeindruckenden Song, der auf seine Weise ja sehr für die Werte steht, die sich die EBU seit jeher auf die Fahne schreibt: Sei du selbst, hab Respekt und finde Stärke in deiner Individualität. Und wäre diese Saison eine wie jede andere für den Wettbewerb gewesen, wäre ich wahrscheinlich sehr zufrieden mit diesem Ergebnis. Letztes Jahr noch hatte ich an dieser Stelle viel darüber geschrieben, was inhaltlicher Fortschritt für die Kandidaturen beim ESC bedeutet und Nemo repräsentiert auf eine Art genau den Fortschritt, den ich musikalisch sehen will. Leider war 2024 aber alles andere als ein normales Jahr, weshalb es in diesem Text nun leider ziemlich wenig um Musik gehen wird. Stattdessen ist es mir ein Anliegen, mich über die politischen (ja, nennen wir das Kind doch gleich beim Namen) Hintergründe des diesjährigen Wettbewerbs auszulassen und mich darüber aufzuregen, wie pervers das Konzept dieser Veranstaltung in meinen Augen inzwischen verzerrt wurde. Wobei zwei Dinge dabei für mich von Relevanz sind: Erstens und wichtigstens der Umgang des Wettbewerbs mit dem Nahostkonflikt und dem aktuell stattfindenden Krieg im Gazastreifen, zweitens und vielleicht eher als Fußnote des ganzen die Causa Joost Klein und dessen Disqualifizierung im Vorfeld des Finales. Es gibt aktuell viele Überlegungen ob des Zusammenhangs dieser beiden Themen, auf die ich auch eingehen will, die momentane Faktenlage sieht aber so aus, dass beides eher unabhängig voneinander zu betrachten ist. Und wo es ganz sicher Punkte geben wird, an denen ich auf existente Spekulationen eingehe, will ich auch nicht in wilde Gerüchte übergehen und voreilige Schlüsse ziehen. Davon ist die letzten Tage eh schon zu viel passiert. Und Tatsache ist sowieso, dass sich beide Sachverhalte in den nächsten Tagen und Wochen noch weiterentwickeln werden und abzuwarten ist, was sich daraus noch so ergibt. Ich für meinen Teil habe aber schon jetzt das Bedürfnis, mir über all das etwas Luft zu machen und habe genug, worüber ich mich aufregen will.
 
Schon als im vergangenen Herbst der Krieg im Gazastreifen begann und der ESC parallel die Vorbereitungen für die Vorentscheide traf, war eigentlich klar, dass es dieses Jahr in dieser Hinsicht Krach geben würde. Der Konflikt zwischen Isreal und Palästina und alles damit zusammenhängende sind seit dem Anbeginn des Wettbewerbs ein Sachverhalt, der sich in diesem deutlich abzeichnet und schon seit geraumer Zeit sucht die EBU mehr oder weniger geschickt ihren Umgang damit. Besonders unter dem Gesichtspunkt jedoch, dass oft versucht wird, das ganze unter dem Deckmantel des "unpolitischen" zu deckeln, beißt man sich aber immer wieder die Zähne aus und geht seit Jahren mehr und mehr in die Richtung, bestimmte Äußerungen schlichtweg zu unterbinden. Und diese Woche war dann irgendwie der absehbare Punkt, an dem sich die EBU damit selbst ins Knie schoss und sich in ihren eigenen Regeln, Statuten und Aktionen so sehr verhedderte, dass ihre Politik immens unglaubwürdig wurde. Vor allem mit dem Verhalten der Veranstaltenden selbst habe ich an diesem Punkt also ein Problem, da sich in diesem während der vergangenen Woche wiederholt gezeigt hat, dass die EBU eben kein neutral agierendes Gremium ist, das sich um Ausgewogenheit bemüht, sondern eine Haltung in der ganzen Sache hat. Eine Haltung, die sich aktuell in einer krassen Verzerrung der Botschaften von Offenheit und Toleranz gezeigt hat, die die Organisation an sich propagiert und alles andere als deeskalierend wirkte. Und klar weiß ich dabei auch nicht unbedingt, wie man Dinge hätte besser lösen können und sehe ein, dass der Umgang mit einem so global relevanten Phänomen im Mikrokosmos ESC kein einfacher ist. Hätte man Israel von vornherein disqualifizieren sollen so wie Russland 2022? Kann man die Kriege Russland-Ukraine und Israel-Palästina auf dieser Ebene überhaupt direkt vergleichen? Inwiefern agiert der ausrichtende israelische Sender KAN unabhängig von den Aktionen einer israelischen Staatsregierung? Ist es okay, eine 20-jährige Sängerin für Fehlverhalten auszubuhen, das Mitgliedern ihrer Delegation angelastet wird? Wäre es vorstellbar, auch einen Staat wie Palästina (insofern gewollt) innerhalb der EBU zu repräsentieren? Man könnte an dieser Stelle vom hundersten ins tausendste gehen, was ich aber nicht tun kann und will. Eine kurze Positionierung werde ich mir an dieser Stelle aber trotzdem abringen: Die Disqualifikation von Eden Golan wäre als Parallele zum Ausschluss von Russland in meinen Augen moralisch legitim gewesen, hätte allerdings nicht für weniger Debatten und Proteste gesorgt. Auch muss man sehen, unter welchen Gesichtspunkten dies stattfindet. Denn Disqualifizierungen solcher Art haben letztlich vor allem symbolischen Charakter und werfen die Frage auf, ob es das Statement wert gewesen wäre, wenn sich am Ende so oder so das ganze Teilnehmer*innenfeld spaltet und die Zukunft des Contests an sich, der für sich ja etwas sehr symbolisches ist, in die Ungewissheit stürzt. Auch ist es für mich absolut unbestreitbar, dass ein Song der sich - mehr oder weniger metaphorisch - mit den Ereignissen am 7. Oktober auseinandersetzt und vor allem Trauerarbeit ist, nicht mit dem Abfeiern eines Genozids gleichzusetzen ist und es richtig und wichtig war, eine israelische Delegation in einer solchen Situation unter besonderen Schutz zu stellen. Blöd wird es nur an der Stelle, wenn sich Delegationen und Veranstaltende einem Dialog zum Thema verschließen und damit die Toleranz und Offenheit einschränken, die sie selber propagieren. Weshalb man sich ansehen sollte, wie ungelenk und schädigend der Umgang mit dem Thema diese Woche durchweg lief:
Abgesehen von einer kleinen Watsche, bei der der Text des isrealischen Songs geändert werden musste, stand der Teilnahme von Eden Golan nicht nur nichts im Weg, es wurde auch konsequent jede Kritik daran unterbunden. Berufen hat man sich dabei auf bestehende Regeln wie das Verbot politischer Äußerungen und den Flaggen-Passus (erlaubt sind nur Flaggen der jeweiligen teilnehmenden Länder sowie verschiedene Pride-Flaggen), die an sich schon völlig Banane sind und in ihrer Umsetzung zudem für ziemliche DDR-Verhältisse sorgten. Ganz zu schweigen von offener Kritik, die es innerhalb des Contests gar nicht gab, bedurften selbst solidarische Bekundungen mit Opfern hochgradiger Verschlüsselung und affigen Dog-Whistles, um nicht unterbunden zu werden. Die Asymetrie der Repräsentation, die schon allein dadurch besteht, dass Israel EBU-Mitglied ist und Palästina nicht, wurde also noch dadurch verstärkt, dass die Existenz palästinensischer Symbole und Solidarität für die Opfer eines Krieges als unerwünscht angesehen waren. Ganz systematisch. Das ist unabhängig von den Argumenten für und gegen Israelkritik und der Frage, wie politisch Mitleid mit Kriegsopfern jedweder Seite überhaupt ist, schlichtweg nicht unparteiisch. Mehr oder weniger verdeckte Kritik gab es im Laufe der Woche deshalb unter anderem von Bambie Thug (Irland), Iolanda (Portugal), Dons (Lettland), Joost Klein (Niederlande), Marina Satti (Griechenland) und auch vom schweizerischen Gewinneden Nemo sowie kurze explizite(re) Statements von Slimane aus Frankreich, Angelina Mango aus Italien und dem Gastsänger Eric Saade, der im ersten Halbfinale auftrat. Unmut seitens der Künstler*innen und Delegationen war also schon früh spürbar, weshalb ich echt ein bisschen enttäuscht war, dass der große Eklat zumindest in der eigentlichen Finalshow ausblieb. Wobei es den mit der Disqualifizierung der Niederlande ja eigentlich schon direkt im Vorfeld gab. Diese ist aufgrund der dünnen Faktenlage aktuell noch etwas schwieriger zu beurteilen, momentaner Stand ist aber, dass Klein aufgrund einer Drohung disqualifiziert wurde, die er gegenüber einer Kamerafrau äußerte. Laut einem Statement des niederländischen Senders Avrotros soll diese versucht haben, Klein gegen seine Einwilligung zu filmen, weshalb es ihr gegenüber eine Geste und/oder Äußerung gab, die zu einer Anzeige führte. Seit der Prüfung des Vorfalls durch die EBU und dem damit verbundenen Ausschluss Kleins von den letzten Proben und schließlich vom gesamten Finale hat es jede Menge Hörensagen und effektive Falschinformationen im Netz gegeben, dessen Wahrheitsgehalt fragwürdig ist und wovon ich hier nichts wiedergeben will. Eine Korrelation zwischen dem Ausschluss der Niederlande und dem Streitthema Israel ist Stand jetzt zunehmend unwahrscheinlich, obwohl bereits vorher ein Video von einem sehr ähnlichen Zusammenstoß zwischen Vertretern der israelischen und niederländischen Delegation auftauchte. Avrotros wirft der EBU nun vor, den Vorfall unnötig eskaliert zu haben und dass der Ausschluss von Klein unproportional zum Verhalten des Künstlers gewesen sei, andere Quellen berichten von einer durchaus physischen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Was auch immer am Ende stimmt, so richtig schlau wird man aus der Sache nicht und es werden sicherlich erst die nächsten Wochen zeigen, wie das alles einzuordnen ist. Auf dem eh schon riesigen Misthaufen, der dieser Wettbewerb war, setzte dieser Vorfall aber nochmal die stinkende Kirsche und machte damit nichts besser. Und wo ich mich an dieser Stelle eigentlich aufregen sollte, wie rufschädigend das alles für den ESC ist, finde ich ehrlich gesagt auch ein bisschen, dass so ein Disaster genau das ist, was die seit Jahren fragwürdige Politik der Veranstaltung irgendwie verdient hat. Ich denke, dass zumindest für mich der Song Contest 2024 ein Umdenken in der Hinsicht verursacht hat, dass ich meine rosarote Brille abnehme und zu dieser Veranstaltung in Zukunft wohl leider ein ähnliches Hassliebe-Verhältnis pflegen werde wie alle zwei Jahre zu größeren Fußballturnieren: Es hat viel schönes und positives von und für die daran Teilnehmenden und es bietet wahnsinnig gute Unterhaltung, aber vom Kopf her stinkt es zum Himmel. Und mit Sicherheit wird es die nächsten Jahre nicht einfacher werden.


CEASEFIRE NOW

FREE PALESTINE

Sonntag, 12. Mai 2024

Die Wochenschau (06.05.-12.05.2024): J. Cole, Einstürzende Neubauten, Kettcar, the Libertines

 
 
 
 
 
 
KETTCAR
Gute Laune ungerecht verteilt
Grand Hotel van Cleef

Eine Band mit Haltung waren Kettcar ja schon immer und gottseidank auch eine, die diese auf starke Weise zu kommunizieren wusste. Gute Laune ungerecht verteilt ist nun in seinen besten Momenten ein Album, das sich mit dem Thema Haltung an sich auseinandersetzt und dabei wirklich wertvolles zutage fördert. Der Opener Auch für mich 6. Stunde tut dies am eindrucksvollsten und liefert ein existenzelles Mission Statement für die Platte, abgesehen davon brilliert vor allem Kanye in Bayreuth als Song, der das leidige Thema "Kunst vom Künstler trennen" in meinen Augen gehaltvoller behandelt als manche mehrseitigen Thinkpieces. Auch abseits dieser beiden großen Highlights ist Gute Laune aber das beste Kettcar-Album seit einer ganzen Weile, wobei es mitunter auch sehr persönliche Momente gibt, in denen Marcus Wiebusch Lebensgeschichten erzählt und mehr als einmal auf die Vergangenheit von sich und seiner Band zurück schaut. Ein bisschen schade finde ich mal wieder das in seinen Texten übliche Problem, zwar auf sehr konkrete Dinge hinaus zu wollen, dabei aber stets abstrakt und verklausuliert zu schreiben, sodass man manchmal wenig vom eigentlichen Sinn versteht. Als wesentliches Plus zu den unmittelbaren Vorgängern der Platte empfinde ich indes, dass die musikalische Ausarbeitung der Band erstmals seit langem nicht nur Backdrop für Wiebuschs Lyrics ist, sondern für sich positiv auffällt. Nach dem etwas eingeschlafenen und ziellosen Ich vs. Wir von 2017 definitiv wieder ein Argument dafür, dass diese Band einen besonderen Status in der deutschen Pop-Landschaft einnimmt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





BRYSON TILLER
Bryson Tiller
RCA

Ich war ja echt selbst ein bisschen überrascht, als 2020 Bryson Tillers letzte Platte Anniversary weit in der oberen Hälfte meiner Jahres-Top-30 landete und ich feststellte, wie sehr ich die Musik dieses Typen eigentlich mochte. Vier Jahre sind seitdem nun vergangen und mit seinem selbstbetitelten neuen Album schafft der Sänger aus Kentucky es, dem einen (fast) ebenbürtigen Nachfolger anzuschließen. Und das, obwohl er diesmal stilistisch in eine etwas andere Richtung geht. Die 18 Tracks hier suchen stilistisch die Mitte zwischen Drake und the Weeknd, finden dazwischen aber auch Anklänge des Sounds, der fast an die goldene R'n'B-Ära der Neunziger erinnert. Lyrisch pendelt die Platte dabei zwischen sehr kuscheligem Schmusepop und vor allem lyrisch ziemlich versauten Schlafzimmer-R'n'B (Persuation!), ist darin aber nie geschmacklos oder kitschig. Und sie wäre vermutlich wieder so genial wie die letzte, würde Tiller nicht mit den grauslig boybandigen letzten zwei Songs nochmal richtig ins Klo greifen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11





EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN
Rampen (apm: alien pop music)
Potomak

Neu ist es nicht, dass Songs der Neubauten aus live improvisierten - im Bandjargon "Rampen" genannten Jams entstehen, die neue Platte packt diese interne Lingo aber erstmals in den Titel und macht den spontanen Charakter dieser Songs auch transparenter. Vier Jahre nach dem sehr strukturierten und konzeptuellen Alles in Allem ist die selbstgenannten Alien Pop Music der Berliner ein langes Album voller Stückskizzen, die intern und untereinander wenig zusammenhält. Und wo man kompositorisch irgendwie merkt, dass diese Band sowas nicht zum ersten Mal macht und sich an vielen Stellen ganz klar der Charakter der Neubauten abzeichnet, fehlen doch immer wieder die Aha-Momente, die eine gescheite Nachbearbeitung im Optimalfall schafft. Viel hat das damit zu tun, dass Rampen einfach eine sehr weitläufige Platte mit 15 Songs in 75 Minuten ist, von denen die wenigsten wirklich hängen bleiben, schuld ist aber auch zum Teil ein kreativ enthemmter Blixa Bargeld, der textlich noch mehr abstrahiert als ohnehin schon. Nicht selten wirken seine zusammenhanglosen Gedichte unmotiviert kunstig und sogar pretenziös, wenn er willkürlich Vokabeln mit diffusem Schönklang einpflegt, die aber völlig ohne Kontext stattfinden. Wobei das erstaunliche ist, dass sich daraus nicht mal Momente ergeben, die auf schräge Weise erinnerungswürdig sind, sondern die meistens einfach nur öde sind. Einzelne Lichtblicke wie Ick wees nich (noch nicht), Es könnte sein und vor allem das melancholische Trilobiten gibt es am Ende schon, auch die sind aber maximal so prägnant wie die mittelgruten Songs auf Alles in Allem. Womit Rampen durchweg ein Album bleibt, dem man seine Skizzenhaftigkeit anmerkt und das daran auch nicht gewinnt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠 06/11





J. COLE
Might Delete Later
Interscope

Stand Mai wissen wir, dass man sich an Might Delete Later mittelfristig am ehesten wegen seines Bonustracks 7 Minute Drill erinnern wird, mit dem J. Cole seinen Teil zum mittlerweile komplett eskalierten "Jahrhundert-Beef" zwischen Drake und Kendrick Lamar beitrug, aus dem er selbst sich zum Glück zurückzog, bevor es eklig wurde. Und ein bisschen schade finde ich das ganze, denn mit Might Delete Later veröffentlicht der Rapper drei Jahre nach seinem echt gelungenen letzten Album the Off-Season und zwei nach dem nicht weniger starken zweiten Dreamville-Mixtape ein weiteres äußerst vorzeigbares Stück Musik, das inzwischen eine verlängerte Serie von Platten erweitert, auf denen sein bestes Material seit Ewigkeiten zu hören ist. Auch Might Delete Later verzichtet dabei wieder auf fette Leadsingles und gefällt sich vielmehr als lyrisch-handwerkliche Hiphop-Grundlagenarbeit, die für Cole schon lange zur Komfortzone geworden ist. Erneut sind dabei auch Gäste dabei, die aber wie schon auf den letzten Platten eher ausgewählte Kollaborateure sind als bloße Features und allesamt super funktionieren. Zwar hat die sehr pragmtische Ausrichtung auch zur Folge, dass es eben wenig besondere Momente gibt, was aber auch irgendwie halb so wild ist. Denn die spart Cole sich dann wahrscheinlich für das "richtige" neue Album auf, das anscheinend bereits in den Startlöchern ist. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





RITCHIE
Triple Digits [112]
Die-Ai-Wei

 
 
 
 
 
 
 
 
Es ist fraglich, ob dieses Solo-Debüt von RiTchie nach dem Tod von Steppa J. Groggs und dem damit verbundenen Ende von Injury Reserve nun eigentlich ein Nebenschauplatz zum letztes Jahr angekündigten Band-Nachfolgeprojekt By Storm ist oder so etwas wie dessen letztlicher Phänotyp, da Produzent Corey Parker hier weiterhin auftaucht und an der Entstehung der Platte somit alle verbliebenen Mitglieder des Hiphop-Trios beteiligt sind. So oder so zeigt Triple Digits [112] aber eine Möglichkeit, wie eine Welt nach Injury Reserve aussehen kann, die musikalisch viele Ideen, die es dort früher schonmal gab, neu zusammensetzt. Gerade im direkten Vergleich mit dem finalen Band-Album By the Time I Get to Phoenix ist das hier aber auch wieder ein ganzes Stück weniger ausgefallen und bleibt im Bereich einer zwar durchaus experimentellen, aber niemals komplett entgrenzten Hiphop-Platte. Und wo das schon insgesamt dafür sorgt, dass RiTchie sich mit seinem Erstling nicht blamiert und solide abliefert, ist das Ergebnis bei weitem auch nicht die spannendste Musik, die jemand wie er gerade machen könnte. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11





IRON MONKEY
Spleen & Goad
Relapse

 
 
 
 
 
 
 
 
 
Nach ihrer Wiedervereinigung 2017 ist Spleen & Goad das zweite neue Album der unwahrscheinlichen Sludge-Pioniere Iron Monkey, mit denen Justin Greaves (kennt man vielleicht von Electric Wizard und Crippled Black Phoenix) in den Neunzigern das Werk von Crowbar und Eyehategod auf der anderen Seite des Atlantik voranbrachte. Ziemlich genau dreißig Jahre später klingt das bei dieser Band immer noch ziemlich rough und brachial, wobei vor allem die grantige aber trotzdem auf Anschlag gedrehte Produktion fantastisches hervorbringt. Ein richtiges Wahnsinnsalbum wäre Spleen & Goad, wenn nicht einige Songs sehr meine Geduld strapazieren würden, beziehungsweise kompositorisch Wege gehen würden, die längere Spielzeiten entsprechend rechtfertigen. Eine tolle Platte, die mich gerade ein bisschen aus der kalten erwischt hat, machen die Briten hier aber trotzdem allemal.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





THE LIBERTINES
All Quiet On the Eastern Esplanade
EMI

Nur um das klarzustellen: Alles, was an den Libertines irgendwann man jung und wild gewesen sein könnte, hat sich spätestens mit diesem Album verabschiedet. Und das ist auch gut so. Denn nicht nur wäre eine Miene der Rebellion über 20 Jahre nach dem Durchbruch der Band irgendwie wenig authentisch, die Musiker selbst strahlen diese auch gar nicht mehr aus. Besonders Pete Doherty hat inzwischen seit Jahren den Nimbus (und den BMI) eines gesetzten Lebemannes und spätestes mit der Etablierung eines mondänen Banddomizils im englischen Küstenort Margate, der nebenbei als bohèmieskes Hotel fungiert und in dem das neue Album auch aufgenommen wurde, ist es vorbei mit dem Punk. Auf All Quiet On the Eastern Esplanade geschieht die Abkehr davon aber sehr bewusst und führt die Libertines nun in eine - wie ich finde verdiente - Position als eine dieser klassisch britischen Rock-Acts wie die Rolling Stones, Blur oder Oasis, die mit ihrer Musik im besten Sinne ein Klischee abbilden. Dass sich die neue Platte aber nicht auf diesen Lorbeeren ausruht, merkt man vor allem daran, dass es hier einige der gesellschaftsrelevantesten Songs der Band seit langem gibt und die Libertines sich Mühe geben, ihre neue Rolle auch inhaltlich auszufüllen. Nicht so sehr im Sinne von handfester Kritik, sondern eher mit der Weisheit lang gedienter Veteranen, die aus ihren Erfahrungen sprechen. Die besten Songs sind am Ende trotzdem die, in denen Doherty über die Jugend (Be Young), Rock'n'Roll (Songs They Naver Play On the Radio) oder sich selbst (Run Run Run) singt und die ein bisschen romatisch verquickt sind. Womit All Quiet für mich fast zehn Jahre nach dem eigentlichen Comeback die deutlich bessere Wiederholung davon ist und alles in allem sehr viel planvoller wirkt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11



Sonntag, 5. Mai 2024

Die Wochenschau (27.04.-05.05.2024): Vampire Weekend, MGK & Trippie Redd, Khruangbin, Sum 41 und und und...

 
 
 
 
 
ANYMA
Genesys II
Interscope

Anyma macht schon bei Titel und Artwork keinen Hehl daraus, dass Genesys II eher ein Add-On zu seinem vergangenen Sommer erschienenen Debüt (das immerhin unter den Top Fünf meiner Lieblingsplatten der Saison landete) ist als wirklich ein neues Album. Die komplette zweite Hälfte (beziehungsweise die zweite "Disc", wenn man diesen Neunziger-Begriff verwenden will) besteht eh aus Remix-Versionen, nicht wenige von Songs des ersten Genesys-Teils. Interessant für mich waren aber natürlich vor allem die zehn neuen Stücke, die es auf der ersten Hälfte gibt. Auch diese nehmen musikalisch wenig Abstand von der Handschrift des Debüts und unterscheiden sich am ehesten dadurch, dass sie Anymas Metamorphose zum Großevent-Künstler stärker ausdrücken. Auch Teil Eins war schon an vielen Stellen Material für Megaraves, funktionierte aber trotzdem unabhänig davon, was man hier nicht mehr in jedem Fall sagen kann. Vor dem inneren Auge hat man hier noch öfter farbenfrohe Tomorrowland-Sets mit Fantasy-Feuerwerk-Zinnober und wenn man mich fragt, kommt das auch dadurch, dass der Berliner kompositorisch etwas abstumpft. Das Ergebnis ist dann immer noch ein durchweg starkes Album, einen Jahresfavoriten macht Anyma für mich damit aber ganz sicher nicht mehr. Und wo es schon auf dem Vorgänger als logischer nächster Schritt für ihn erschien, stilistisch diesen Weg einzuschlagen, hätte ich mir doch gewünscht, dass er darin weiter beide Seiten seines Anspruchs balanciert kriegt. Wenn er damit jetzt richtig erfolgreich wird, kann ich aber wenigstens sagen, dass ich ihn schon gehört hätte, als er noch gut war.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





MGK
TRIPPIE REDD
Genre : Sadboy
Interscope

Obwohl ich in der Vergangenheit verhältnismäßig soft mit dem Output von Machine Gun Kelly war, rechne auch ich spätestens seit seiner Metamorphose zum Pop-Punk-Schreckgespenst bei allem, was der Typ anfasst, vorsichtshalber mit dem schlimmsten. So auch bei dieser trotz einer knappen halben Stunde Spielzeit offizell als EP gebrandeten neuen Platte, bei der mit Trippie Redd immerhin ein Künstler als gleichwertiger Partner dabei ist, dessen Musik ich in der Vergangenheit oftmals mochte und der in meinen Augen wie wenige Andere das Thema Emo-Trap hochwertig aufbereitet. Und obwohl ich es nicht argumentativ klar auf seine Anwesenheit zurückführen kann, dass Genre : Sadboy kein kompletter Reinfall ist, ist das in vielen Momenten doch meine Vermutung. Zuletzt strahlte zwar auch sein Stern - gerade was seine Emo-Platten betraf - weniger hell als in den Zwotausendzehnern und besonders an seine Kollabo mit Travis Barker 2021 erinnere ich mich mit Schmerzen, hier ist er aber anscheinend wieder ziemlich auf dem Damm. MGK seinerseits profitiert davon, dass Genre : Sadboy zumindest vom Vibe her eher wieder Rap- als Rock-orientiert ist und er hier und da auch wieder ein paar klassische Punchlines raushauen kann. Was mich besonders positiv überrascht hat ist die streckenweise nicht unspannende Aufnahme und Produktion der Platte, bei der mit verschiedenen Recording-Techniken gearbeitet wurde, die man auch wirklich bemerkt. Klar ist es dabei am Ende alles andere als ein Meisterwerk und bleibt gerade inhaltlich manchmal fragwürdig, es ist aber weder peinlich noch langweilig. Und das ist bei diesen beiden Künstlern leider Gottes etwas, das man mittlerweile hervorheben muss. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11




ARUSHI JAIN
Delight
Leaving

Die kalifornische Modular-Fricklerin Arushi Jain kombiniert auf ihrem dritten Soloalbum (ihrem vierten, wenn man ihr 2018 veröffentlichtes Debüt unter dem Namen Ose mitzählt) die ambiente Ästhetik analoger Synth-Musik in Verwandtschaft von Ann Annie oder Tim Hecker mit den Raga- und Hindustani-Sounds ihrer indischen Heimat. Das klingt schon auf dem Papier total spannend, ist es in seiner Ausführung aber nochmal auf eine ganz andere Weise, als man sich das vorstellt. Denn obwohl man auf Delight nirgends die für Raga typischen Instrumente wie Sitars oder Tablas hört, baut Jain die entsprechende Stimmung allein mit ihrer Stimme und dem elektronischen Backdrop sehr wirkungsvoll ein. Das macht die Platte allein durch ihre Kompositorik zu einem der spannenderen Ambient-Releases der bisherigen Saison und dass sie darüber hinaus auch noch klasse produziert ist und einen fantastischen Flow hat, tut da nur sein übriges.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






SUM 41
Heaven :x: Hell
Rise Records

Grundsätzlich bin ich ja schon immer ein eher skeptischer Pop-Punk-Hörer und das Ereignis, dass ausgerechnet Sum 41 mit diesem aufgeblasenen Abschieds-Doppelalbum eine Ausnahme sein würden, hatte ich ehrlich gesagt nicht kommen sehen. Für ihre letzte Platte vor der Auflösung (wobei ich erstmal abwarten würde, wie nachhaltig die tatsächlich sein wird) haben sich die Kanadier aber nochmal ordentlich hinter die Bank geklemmt und eine gute Stunde voller großartiger Pop-Punk-Hymnen zurechgezimmert, die überraschend konsistent ist. Ihnen selbst zufolge soll deren zweite Hälfte dabei die Metal-Ambitionen ihrer letzten paar Platten weiterdenken, wie schon bei denen bedeutet das aber lediglich, dass sie hier ein bisschen grantiger und schneller zu Werke gehen, ansonsten aber ihren üblichen Film abfahren. Abgesehen von einem ziemlich entglittenen Paint It Black-Cover sind in dieser zweiten Hälfte auch die besten Songs des Albums zu finden, eben weil sie ein bisschen mehr auf die Tube drücken, Teil Eins steht dem aber in wenig nach. Und wo Heaven :x: Hell für Fans von Sum 41 damit der bestmögliche epische Abschied ist, den man sich von so einer Band nach fast 30 Jahren wünschen kann, funktioniert es auch für Leute wie mich, die einfach mal wieder eine satte Portion gut gemachten Pop-Punk ohne Füllersongs haben wollen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





REAL BAD MAN
LUKAH
Temple Needs Water. Village Needs Peace.
Real Bad Man Records

 
 
 
 
 
Die Euphorie über die Platten des Produktionskollektivs Real Bad Man, die ich vor ein, zwei Jahren noch hatte, war zuletzt ob der Tatsache etwas gesunken, dass viele ihrer Alben nicht wirklich auf lange Sicht funktionierten und sehr schnell den ursprünglichen Aha-Effekt verloren. Und auch diese neue LP mit dem Rapper Lukah aus Memphis wirkt auf den ersten Blick wie eine wenig besondere. Gut die erste Hälfte der immerhin 15 Songs zeigt den üblichen soliden Boom Bap von Real Bad Man plus der Arbeit eines kompetenten Rappers, wie man es auch schon von anderen Projekten des Kollektivs kennt. Erst in seiner zweiten Hälfte blüht Temple Needs Water. Village Needs Peace so richtig auf, was dann vor allem daran liegt, wie Lukah textlich arbeitet. Denn hier behandelt er dann an vielen Stellen Themen wie Alltagsrassismus, die Geschichte des Kolonialismus und die Ausbeutung des afrikaischen Kontinents auf eine sehr originelle Weise, die gerade auch durch ihre etwas esoterische Art immens gut funktioniert. In Songs wie the Farmer, the Servicemen oder the Poets Pour Liberation erinnert er mich lyrisch fast an Bands wie Arrested Developement, nur dass er dabei wirklich tief in die theoretische Substanz seiner Inhalte abtaucht. Und an diesen Stellen ist Temple Needs Water definitiv ein besonderes Album, von dem ich zumindest inständig hoffe, dass es sich nicht so schnell abnutzt wie viele andere in seiner Verwandtschaft.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11
 
 
 
 
AUGN
Gerstenkorn / Fata Morgana
Dioptien
Auch das zweite "Album" der Gruppe Augn besteht aus zwei EPs und macht inhaltlich wieder nicht viel neues. Die meisten der Kritikpunkte, die ich schon bei ihrem Debüt vom letzten Jahr hatte, kommen hier wieder zum tragen und obwohl die jetzigen zwei Platten marginal besser sind, finde ich Augn im Kern doch einfach ziemlich überbewertet: Musikalisch ist das Duo eine Mischung aus Sleaford Mods auf deutsch, H.Gich.T und Olli Schulz (letzteres zumindest dem Gesang nach zu urteilen), das irgendwie schwarzhumorig-gesellschaftskritisch unterwegs sein will, dabei aber eher klobig Allgemeinplätze bedient und auf einfache Ziele schießt. Da geht es in A&R um die selbstgefällige Musikindustrie, in Beyonce um den zwielichten Ethos großer Pop-Phänomene und in Habibi um falsche Wilkommenskultur. Mir ist irgendwie klar, wie sie damit so eine Sensation werden konnten (vor allem aufgrund ihrer konsequenten Anti-Haltung in allem, was PR angeht), leider verbirgt sich jedoch hinter der originellen Fassade eine ziemlich klumpige und zynische Knüppelrhetorik, die am Ende fast weniger als die Summe ihrer Teile ist. Womit Augn am Ende irgendwie selber das sind, wogegen sie inhaltlich auflaufen: Ein Sack heißer Luft, der lediglich durch seine gut gemacht Promo wirklich auffällt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠 06/11
 
 
 
 
 
KHRUANGBIN
A La Sala
Dead Oceans
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Obwohl Khruangbin in meiner Erinnerung manchmal wie die langweiligste Band der Welt erscheinen mögen und sie dank ihres sehr zurückgelehnten Chillout-Ansatzes immer wieder Gefahr laufen, selbst die Prämisse eines Crossovers aus flamboyant gemischten internationalen Folk-Flavours furchtbar schnarchnasig klingen zu lassen, haben sie mit A La Sala wieder mal Überzeugungsarbeit geleistet. Wie schon auf dem Vorgänger Mordechai von 2020 (seitdem erschienen unter anderem ein Remixalbum der eben genannten LP sowie eine Kollabo-Platte mit Vieux Faka Touré) schaffen die Texaner es hier, einen gediegenen Mix aus softer Psychedelik, einer Prise Funk und der Attitüde von Ambient Pop ansprechend zu verpacken und halten die Spannung trotz der Tatsache, dass sie noch weiter das Tempo drosseln, weniger singen als vorher und ganz und gar in ihrer Rolle als Klangtapeten-Band aufgehen. Und klar kann man an diesem Ansatz kritisieren, dass er nicht besonders kreativ ist und Khruangbin künstlerisch weiter in eine Nische drängt. Erstens scheinen sich die Texaner in dieser aber pudelwohl zu fühlen, andererseits ist A La Sala kompositorisch wie klanglich trotzdem echt solide.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





VAMPIRE WEEKEND
Only God Was Above Us
Columbia

Es hat mich einigermaßen überrascht, wie sehr sich die Musikpresse Anfang des letzten Monats mit Lob über Only God Was Above Us überschlug, waren Vampire Weekend doch eine Band, die in den vergangenen Jahren von ebendiesen eigentlich zunehmennd angezweifelt wurde. Und nicht dass ich in dieser Hinsicht irgendwie besser gewesen wäre: Auch ich war 2019 kein Freund von Father of the Bride, brauchte ein Jahrzehnt, um mit Modern Vampires of the City wirklich warm zu werden und schrieb sogar mal einen sehr langen Text darüber, warum wohl keines ihrer Alben nochmal an die Großartigkeit ihres Debüts heranreichen würde. Dass diese neue Platte jetzt also diejenige sein soll, die nach Jahren des Nicht-so-richtig und Wirklich-schade-dass den Knoten platzen und diese Band wieder in vollem Glanz erstrahlen lässt, fand ich also etwas seltsam. Und um es ganz direkt zu sagen: Ich kann diese Auffassung nicht teilen. Only God Was Above Us ist ein weiterer Longplayer vom Schlag der beiden Vorgänger, der sein möglichstes tut, neue Impulse zu schaffen und Vampire Weekend über ihren Schatten springen zu lassen, leider aber immer dann am besten ist, wenn er an die ersten zwei Alben der Band erinnert. Dass er dabei zwischenzeitlich ein paar echt schicke Momente abwirft und definitiv stärker ist als Father of the Bride, muss ich ihm zugestehen, mir persönlich reicht das aber nicht. Und mit jeder weiteren Platte, die die New Yorker auf diese Weise machen, wächst in mir eigentlich nur die Gewissheit, dass es etwas in der Ästhetik ihrer ersten beiden Alben gibt, das einfach unwiederbringlich ist und den Versuch, daran anzuschließen, müßig macht. Was unterm Strich heißt, dass ich die Mühe hier wirklich schätze, das Thema am Ende aber mal wieder verfehlt wurde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11