Mit dem Sieg von Nemo vorgestern könnte man meinen, dass es für den ESC in diesem Jahr letztlich doch noch ein versöhnliches Ende gab. Es gewinnt die Kandidatur einer nonbinären Künstlerperson für die Schweiz mit einer starken Geschichte über Identitätsfindung und einem inhaltlich wie technisch beeindruckenden Song, der auf seine Weise ja sehr für die Werte steht, die sich die EBU seit jeher auf die Fahne schreibt: Sei du selbst, hab Respekt und finde Stärke in deiner Individualität. Und wäre diese Saison eine wie jede andere für den Wettbewerb gewesen, wäre ich wahrscheinlich sehr zufrieden mit diesem Ergebnis. Letztes Jahr noch hatte ich an dieser Stelle viel darüber geschrieben, was inhaltlicher Fortschritt für die Kandidaturen beim ESC bedeutet und Nemo repräsentiert auf eine Art genau den Fortschritt, den ich musikalisch sehen will. Leider war 2024 aber alles andere als ein normales Jahr, weshalb es in diesem Text nun leider ziemlich wenig um Musik gehen wird. Stattdessen ist es mir ein Anliegen, mich über die politischen (ja, nennen wir das Kind doch gleich beim Namen) Hintergründe des diesjährigen Wettbewerbs auszulassen und mich darüber aufzuregen, wie pervers das Konzept dieser Veranstaltung in meinen Augen inzwischen verzerrt wurde. Wobei zwei Dinge dabei für mich von Relevanz sind: Erstens und wichtigstens der Umgang des Wettbewerbs mit dem Nahostkonflikt und dem aktuell stattfindenden Krieg im Gazastreifen, zweitens und vielleicht eher als Fußnote des ganzen die Causa Joost Klein und dessen Disqualifizierung im Vorfeld des Finales. Es gibt aktuell viele Überlegungen ob des Zusammenhangs dieser beiden Themen, auf die ich auch eingehen will, die momentane Faktenlage sieht aber so aus, dass beides eher unabhängig voneinander zu betrachten ist. Und wo es ganz sicher Punkte geben wird, an denen ich auf existente Spekulationen eingehe, will ich auch nicht in wilde Gerüchte übergehen und voreilige Schlüsse ziehen. Davon ist die letzten Tage eh schon zu viel passiert. Und Tatsache ist sowieso, dass sich beide Sachverhalte in den nächsten Tagen und Wochen noch weiterentwickeln werden und abzuwarten ist, was sich daraus noch so ergibt. Ich für meinen Teil habe aber schon jetzt das Bedürfnis, mir über all das etwas Luft zu machen und habe genug, worüber ich mich aufregen will.
Schon als im vergangenen Herbst der Krieg im Gazastreifen begann und der ESC parallel die Vorbereitungen für die Vorentscheide traf, war eigentlich klar, dass es dieses Jahr in dieser Hinsicht Krach geben würde. Der Konflikt zwischen Isreal und Palästina und alles damit zusammenhängende sind seit dem Anbeginn des Wettbewerbs ein Sachverhalt, der sich in diesem deutlich abzeichnet und schon seit geraumer Zeit sucht die EBU mehr oder weniger geschickt ihren Umgang damit. Besonders unter dem Gesichtspunkt jedoch, dass oft versucht wird, das ganze unter dem Deckmantel des "unpolitischen" zu deckeln, beißt man sich aber immer wieder die Zähne aus und geht seit Jahren mehr und mehr in die Richtung, bestimmte Äußerungen schlichtweg zu unterbinden. Und diese Woche war dann irgendwie der absehbare Punkt, an dem sich die EBU damit selbst ins Knie schoss und sich in ihren eigenen Regeln, Statuten und Aktionen so sehr verhedderte, dass ihre Politik immens unglaubwürdig wurde. Vor allem mit dem Verhalten der Veranstaltenden selbst habe ich an diesem Punkt also ein Problem, da sich in diesem während der vergangenen Woche wiederholt gezeigt hat, dass die EBU eben kein neutral agierendes Gremium ist, das sich um Ausgewogenheit bemüht, sondern eine Haltung in der ganzen Sache hat. Eine Haltung, die sich aktuell in einer krassen Verzerrung der Botschaften von Offenheit und Toleranz gezeigt hat, die die Organisation an sich propagiert und alles andere als deeskalierend wirkte. Und klar weiß ich dabei auch nicht unbedingt, wie man Dinge hätte besser lösen können und sehe ein, dass der Umgang mit einem so global relevanten Phänomen im Mikrokosmos ESC kein einfacher ist. Hätte man Israel von vornherein disqualifizieren sollen so wie Russland 2022? Kann man die Kriege Russland-Ukraine und Israel-Palästina auf dieser Ebene überhaupt direkt vergleichen? Inwiefern agiert der ausrichtende israelische Sender KAN unabhängig von den Aktionen einer israelischen Staatsregierung? Ist es okay, eine 20-jährige Sängerin für Fehlverhalten auszubuhen, das Mitgliedern ihrer Delegation angelastet wird? Wäre es vorstellbar, auch einen Staat wie Palästina (insofern gewollt) innerhalb der EBU zu repräsentieren? Man könnte an dieser Stelle vom hundersten ins tausendste gehen, was ich aber nicht tun kann und will. Eine kurze Positionierung werde ich mir an dieser Stelle aber trotzdem abringen: Die Disqualifikation von Eden Golan wäre als Parallele zum Ausschluss von Russland in meinen Augen moralisch legitim gewesen, hätte allerdings nicht für weniger Debatten und Proteste gesorgt. Auch muss man sehen, unter welchen Gesichtspunkten dies stattfindet. Denn Disqualifizierungen solcher Art haben letztlich vor allem symbolischen Charakter und werfen die Frage auf, ob es das Statement wert gewesen wäre, wenn sich am Ende so oder so das ganze Teilnehmer*innenfeld spaltet und die Zukunft des Contests an sich, der für sich ja etwas sehr symbolisches ist, in die Ungewissheit stürzt. Auch ist es für mich absolut unbestreitbar, dass ein Song der sich - mehr oder weniger metaphorisch - mit den Ereignissen am 7. Oktober auseinandersetzt und vor allem Trauerarbeit ist, nicht mit dem Abfeiern eines Genozids gleichzusetzen ist und es richtig und wichtig war, eine israelische Delegation in einer solchen Situation unter besonderen Schutz zu stellen. Blöd wird es nur an der Stelle, wenn sich Delegationen und Veranstaltende einem Dialog zum Thema verschließen und damit die Toleranz und Offenheit einschränken, die sie selber propagieren. Weshalb man sich ansehen sollte, wie ungelenk und schädigend der Umgang mit dem Thema diese Woche durchweg lief:
Abgesehen von einer kleinen Watsche, bei der der Text des isrealischen Songs geändert werden musste, stand der Teilnahme von Eden Golan nicht nur nichts im Weg, es wurde auch konsequent jede Kritik daran unterbunden. Berufen hat man sich dabei auf bestehende Regeln wie das Verbot politischer Äußerungen und den Flaggen-Passus (erlaubt sind nur Flaggen der jeweiligen teilnehmenden Länder sowie verschiedene Pride-Flaggen), die an sich schon völlig Banane sind und in ihrer Umsetzung zudem für ziemliche DDR-Verhältisse sorgten. Ganz zu schweigen von offener Kritik, die es innerhalb des Contests gar nicht gab, bedurften selbst solidarische Bekundungen mit Opfern hochgradiger Verschlüsselung und affigen Dog-Whistles, um nicht unterbunden zu werden. Die Asymetrie der Repräsentation, die schon allein dadurch besteht, dass Israel EBU-Mitglied ist und Palästina nicht, wurde also noch dadurch verstärkt, dass die Existenz palästinensischer Symbole und Solidarität für die Opfer eines Krieges als unerwünscht angesehen waren. Ganz systematisch. Das ist unabhängig von den Argumenten für und gegen Israelkritik und der Frage, wie politisch Mitleid mit Kriegsopfern jedweder Seite überhaupt ist, schlichtweg nicht unparteiisch. Mehr oder weniger verdeckte Kritik gab es im Laufe der Woche deshalb unter anderem von Bambie Thug (Irland), Iolanda (Portugal), Dons (Lettland), Joost Klein (Niederlande), Marina Satti (Griechenland) und auch vom schweizerischen Gewinneden Nemo sowie kurze explizite(re) Statements von Slimane aus Frankreich, Angelina Mango aus Italien und dem Gastsänger Eric Saade, der im ersten Halbfinale auftrat. Unmut seitens der Künstler*innen und Delegationen war also schon früh spürbar, weshalb ich echt ein bisschen enttäuscht war, dass der große Eklat zumindest in der eigentlichen Finalshow ausblieb. Wobei es den mit der Disqualifizierung der Niederlande ja eigentlich schon direkt im Vorfeld gab. Diese ist aufgrund der dünnen Faktenlage aktuell noch etwas schwieriger zu beurteilen, momentaner Stand ist aber, dass Klein aufgrund einer Drohung disqualifiziert wurde, die er gegenüber einer Kamerafrau äußerte. Laut einem Statement des niederländischen Senders Avrotros soll diese versucht haben, Klein gegen seine Einwilligung zu filmen, weshalb es ihr gegenüber eine Geste und/oder Äußerung gab, die zu einer Anzeige führte. Seit der Prüfung des Vorfalls durch die EBU und dem damit verbundenen Ausschluss Kleins von den letzten Proben und schließlich vom gesamten Finale hat es jede Menge Hörensagen und effektive Falschinformationen im Netz gegeben, dessen Wahrheitsgehalt fragwürdig ist und wovon ich hier nichts wiedergeben will. Eine Korrelation zwischen dem Ausschluss der Niederlande und dem Streitthema Israel ist Stand jetzt zunehmend unwahrscheinlich, obwohl bereits vorher ein Video von einem sehr ähnlichen Zusammenstoß zwischen Vertretern der israelischen und niederländischen Delegation auftauchte. Avrotros wirft der EBU nun vor, den Vorfall unnötig eskaliert zu haben und dass der Ausschluss von Klein unproportional zum Verhalten des Künstlers gewesen sei, andere Quellen berichten von einer durchaus physischen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Was auch immer am Ende stimmt, so richtig schlau wird man aus der Sache nicht und es werden sicherlich erst die nächsten Wochen zeigen, wie das alles einzuordnen ist. Auf dem eh schon riesigen Misthaufen, der dieser Wettbewerb war, setzte dieser Vorfall aber nochmal die stinkende Kirsche und machte damit nichts besser. Und wo ich mich an dieser Stelle eigentlich aufregen sollte, wie rufschädigend das alles für den ESC ist, finde ich ehrlich gesagt auch ein bisschen, dass so ein Disaster genau das ist, was die seit Jahren fragwürdige Politik der Veranstaltung irgendwie verdient hat. Ich denke, dass zumindest für mich der Song Contest 2024 ein Umdenken in der Hinsicht verursacht hat, dass ich meine rosarote Brille abnehme und zu dieser Veranstaltung in Zukunft wohl leider ein ähnliches Hassliebe-Verhältnis pflegen werde wie alle zwei Jahre zu größeren Fußballturnieren: Es hat viel schönes und positives von und für die daran Teilnehmenden und es bietet wahnsinnig gute Unterhaltung, aber vom Kopf her stinkt es zum Himmel. Und mit Sicherheit wird es die nächsten Jahre nicht einfacher werden.